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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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zum Strand hinunter. Dabei kam er am Ende des Weges an Yellas Leichnam vorbei. Nur kurz blickte er auf den Toten, fühlte den Kies und den Sand unter seinen Füßen und rannte los, um Ortie zu umarmen und festzuhalten, als hätte er sie gerettet. Ortie war glücklich. Sie setzten sich in den Sand, und auf ihre Weise versuchte das Mädchen ihm zu erklären, dass sie an diesem Tag besonders lange geschlafen hätte.
    »Genauso wie ich!«, sagte Tristan erstaunt und wollte die Worte »schwarzer Holunder« hinzufügen, als er, über die Schulter seiner Freundin hinwegblickend, einen Reiter wahrnahm, der langsam den Strand heraufgeritten kam. Als hätte der Reiter ebenfalls erst jetzt die beiden am Strand Sitzenden bemerkt, hielt er an, wartete, bis auch das Mädchen nach einem Hinweis des Jungen ihm das Gesicht zuwandte, und setzte erst dann seinen Ritt fort. Er näherte sich den beiden Kindern, die sich umklammerten wie zwei zu Tode Erschrockene.
     
    Der waffenlose Reiter ~82~ Abschied
     
    Ortie erblickte eine in dunkles Tuch gehüllte Gestalt auf dem Pferd, die keine Waffen bei sich hatte, keinen Speer, keinen Bogen und kein Schwert. Das Pferd war nicht gepanzert, nirgends war ein Stab mit einer Fahne. »Der Dood«, flüsterte das Mädchen, »kommt Ortie holen.«
    Auch Tristan war aufgestanden, das Mädchen versteckte sich hinter seinem Rücken, und Tristan hatte wie aus einem Reflex heraus einen Pfeil auf seinen Bogen gelegt. »Das ist nicht der Tod«, sagte Tristan leise, »das ist ein Mönch. Er hat eine Kutte an.«
    »Kutte kommt Ortie holen«, stammelte das Mädchen, und er spürte, wie sie ihr Gesicht zwischen seine Schulterblätter drückte.
    Das Pferd bewegte sich ruhig auf sie zu. Vor ihnen brachte der Reiter es zum Stehen und sah Tristan an. »Bist du Tristan, der Sohn des Marschalls von Conoêl?«, fragte der Mann.
    Tristan nickte.
    »Mein Name ist Courvenal. Von jetzt an werde ich dein Lehrer sein. Als Erstes wirst du lernen zu antworten. Du kannst >Ja< sagen oder >Nein<, >Ja, mein Herr< oder >Nein, mein Herr<. Und jetzt sagst du mir, wer sich hinter deinem Rücken verbirgt.«
    »Ortie«, sagte Tristan.
    »Wer?« Der Mönch hatte sich ein wenig nach vorn gebeugt. »Ortie«, sagte Tristan lauter. »Und wer ist das?«
    »Ein armes Mädchen, das seine Mutter verloren hat.«
    »Wunderbar!«, rief Courvenal aus und lächelte. »Unser erstes Gespräch. - Warum versteckt sie sich?«
    »Sie glaubt, du bist der Tod.«
    »Aber vor dem Tod kann man sich nicht verstecken. Wenn er es wollte, hätte er sie schon längst geholt. - Hat sie denn schon mal auf einem Pferd gesessen?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Und du?«
    »Schon ein paar Mal.«
    »Dann steigt auf. Das Mädchen vorn, du hinten.«
    Tristan sah den Mönch erstaunt an. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie alle drei auf das Pferd passten. Doch da stieg Courvenal schon vom Pferd und half erst Tristan in den Sattel und dann dem Mädchen. Er nahm schweigend die Zügel in die Hand und führte das Pferd am Strand entlang, an den Felsen vorbei bis zur nächsten Bucht, von der sie auf einem Weg nach oben gelangten. Alles geschah, als hätte es jemand angeordnet.
    Als sie den kleinen Wald erreichten, wartete dort der Marschall mit einigen Reitern. Tristan schämte sich, als er ihn erblickte, aber Rual tat so, als hätte er ihn ganz selbstverständlich abgeholt. Er machte seinem Sohn keinen einzigen Vorwurf und begrüßte Ortie mit großer Freundlichkeit. In der Burg wartete Merla schon im Hof auf sie und nahm sich des Mädchens an. Tristan durfte sich von Ortie verabschieden und sah sie von diesem Abend an - nie wieder.

Viertes Buch
     
    COURVENAL, DER LEHRER
     
    Kapitel 83 - 99
     
    Doppelblätter ~83~ 9 statt 1
     
    Courvenal beugte sich über das zu zehn gleich großen Doppelblättern zusammengebundene Heft. Er hatte noch einen ganzen Stoß solcher Hefte - sorgfältig eingeschlagen in Wachstuch zum Schutz gegen Feuchtigkeit - in einer Ledertasche. In deren Seitenfach bewahrte er seine Schreibutensilien auf, einen kleinen Holzkasten mit angeschnittenen Rohrfedern, zwei Kupferfässchen mit Tinte, deren Deckel so passgenau gearbeitet waren, dass bislang nie Flüssigkeit hatte austreten können.
    Diese Tasche war für ihn das Wertvollste, das er bei sich trug. Er ließ sie nie aus den Augen. Jetzt saß er in seiner Kemenate auf der Burg Conoêl an einem einfachen Holztisch und strich behutsam mit dem Handrücken über das Blatt, das im Schein des Öllämpchens

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