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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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Tristan schob seine Milchschale von sich weg und stand von der Bank auf. »Ich verspreche auch, nicht mehr an Ortie zu denken, deren Namen Ihr nicht aussprechen wollt«, sagte er dabei und sah Floräte an, »aber vergessen werde ich sie nie, genauso wenig wie Elbeth. - Wo soll die lectio primaris stattfinden?«, fragte er dann an Courvenal gerichtet, überging die schreckhaft aufgerissenen Augen seiner Mutter, als er den Namen Elbeth ausgesprochen hatte, und die vor Erstaunen hochgezogenen Augenbrauen seines Lehrers, als er den Jungen lateinische Worte reden hörte, und setzte hinzu: »Im Großen Saal?«
    »Genau dort«, sagte Courvenal ein wenig zerstreut, wischte sich am Ärmel seiner Kutte den Mund ab und stand ebenfalls auf. Er verbeugte sich gegen Floräte und Rual und ging voran durch das Gemach. Tristan lief an ihm vorbei, öffnete die schwere Holztür und sah zurück zum Tisch, an dem seine Eltern saßen und ihm nachstarrten.
     
    Unterricht ~86~ Neumondfest
     
    »Woher kannst du Lateinisch?«, wollte Courvenal wissen, als sie sich am Ende des langen Tisches des Großen Saals an der Breitseite gegenübersaßen.
    »Es kamen einmal Söldner aus Britannien hier auf die Burg«, sagte Tristan unbefangen, »die weiterzogen zu einem Ort, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann. Sie blieben drei Tage, saßen oft am Feuer und sprachen dann Lateinisch. Ich wusste ja nicht, welche Sprache sie benutzten, und fragte sie deswegen. Und da sagte einer der beiden: Lectio primaris - wir sprechen Latein. Und das habe ich mir behalten.«
    »Es heißt aber nicht lectio primaris, es heißt prima lectio.«.
    »Und warum nicht lectio prima?«
    »Weil…«
    So begann die erste Unterrichtsstunde Tristans mit seinem Lehrer Courvenal, den er bald über alles lieben sollte. Und Courvenal, der die frische Neugier seines Zöglings von der ersten Minute an genoss, wusste gleich, dass er einem besonderen Menschen begegnet war, so wie es ihm Rual prophezeit hatte. Es dauerte nicht zehn, sondern fünfzehn Tage, bis Tristan Lesen und Schreiben gelernt hatte. Der Junge verfügte über eine spielerische Geschicklichkeit und eine Nachahmungsgabe, der Courvenal bisher noch nicht begegnet war. Manchmal saßen sie mehr als zwölf Stunden, oft bis weit nach Sonnenuntergang im Großen Saal, übten und lasen, sprachen und schrieben, lachten und erzählten. Sie holten Bücher aus den Regalen, studierten die Schriften, aber auch die Schriftzüge, und Courvenal zeigte Tristan, wie man sie vereinfachen konnte, um schneller zu schreiben. Anfangs liebte Tristan die Bildbände, er verlor sich in Landkarten, in Darstellungen von höfischen Szenen, wenn Ritter auf Pferden ihr Schwert hoben und gegeneinander kämpften, in die verblassenden rotblauen Farben, mit denen Erde und Stein ausgemalt worden waren.
    Courvenal erklärte ihm, dass alle Bilder etwas Starres hätten, so viel Bewegung ihnen auch vorausging oder folgte. »Das Bild«, sagte er, »ist wie ein Pfeil, der in der Luft stehen bleibt, nachdem wir ihn abgeschossen haben. Der Pfeil jedoch, den du hast fliegen lassen, wird entweder den Hasen treffen, auf den du gezielt hast, oder er fällt zu Boden. Dann musst du hinlaufen und ihn aufheben, oder du findest den Hasen im Gebüsch und bringst ihn nach Hause. Im Bild ist alles starr, Bewegung ist nur in deinem Kopf, du selbst aber bist auch nur ein Bild, wenn du es ansiehst. Und vom Ansehen eines Bildes, auf dem ein Hase getroffen wird, ist noch niemand satt geworden.«
    »Beim Ansehen eines Bildes, auf dem ein Ritter seinem Gegner die Lanze durchs Herz stößt, ist auch noch nie jemand gestorben!«, sagte Tristan.
    »Und wie schreibt man >Herz    »Cors«, schrieb Tristan daraufhin.
    »Gut gemacht!«, lobte ihn Courvenal und fragte: »Ist das dein Herz, das da geschrieben steht?«
    »Nur das Wort dafür«, sagte Tristan.
    »Ist das Wort ein Bild für dein Herz?«
    »Es gilt für alle Herzen.«
    »Bewegt sich das Wort, schlägt es?«
    »Es ist starr und unveränderlich, bis ich es wegwische.«
    »Und dein eigenes Herz? Schlägt es?«
    »O ja!« Tristan lachte. »Es ist ja auch kein Wort.«
    »Wüsstest du denn ohne das Wort, was in deiner Brust schlägt?«
    »Wahrscheinlich … nicht.«
    »Was also stillsteht und unveränderlich ist, zeigt uns das Lebendige?«
    »Wie Eloi zwar >Brot< sagen,

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