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Tristan

Tristan

Titel: Tristan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Grzimek
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Yella erwachte das reine Entsetzen. Eben noch hatte er sich als listenreichen Händler gesehen, und im nächsten Augenblick wurde er zum Dieb, obwohl er doch noch nicht einmal wusste, wie man durch den Schacht von unten wieder hinauf in die Burg kam. Er hatte also noch gar nichts getan, alles nur gedacht und sich ausgemalt, und dafür sollte er büßen? Da sah er auch schon zwei Soldaten auf sich zukommen. Er schaute nach rechts und nach links, ob irgendwo ein Fluchtweg wäre, aber das Einzige, was ihm blieb, war, rückwärts zu gehen. So tat er diesen Schritt nach hinten, und noch einen, sah den Mönch einen Schritt vortreten und die Hände ausstrecken und hörte dessen Stimme: »Bleib stehen, junger Mann, es geschieht dir doch nichts«, aber Yella ging noch weiter zurück, als Rual seine Soldaten schon aufgehalten hatte und Courvenal ihn noch festzuhalten versuchte.
    Doch da war Yella schon über dem Abgrund, ruderte mit den Armen durch die Luft, kippte nach hinten, schrie und verschwand vor den weit aufgerissenen Augen derer, die ihn fallen sahen. Yellas gellender Schrei vermischte sich mit dem Gekreisch der Möwen, die Soldaten und Rual wollten nach vorn zur Felskante eilen, doch Courvenal hielt sie auf, trieb sie sogar zurück, damit keiner von ihnen von unten her entdeckt werden konnte.
    »Was sollen wir machen?«, fragte Rual heftig atmend.
    »Nichts«, sagte Courvenal mit ruhiger Stimme. »Wir kehren nach Conoêl zurück, und zwar so schnell wie möglich, damit Tristan nicht vor uns da ist. Und wenn er kommt und sich bei Euch meldet, werdet Ihr so tun, als wäre das alles nicht geschehen. Auch mich gibt es nicht. Ihr bringt mich irgendwo in der Burg unter, wo ich Tristan nicht begegnen kann.«
    Rual überzeugten die Worte des Mönchs, ohne zu wissen, ob sie richtig oder falsch waren. Er befahl den sofortigen Aufbruch. Yella musste jetzt unten an der Küste auf einem Felsen liegen, und Tristan wäre diesem schrecklichen Anblick ausgesetzt. Rual wagte es nicht einmal sich vorzustellen, was der Junge in diesen Augenblicken erlebte.
     
    Der Möwenstein ~80~ Schwarzer Holunder
     
    Tristan und Ortie hatten Yellas Schrei gehört. Sie blickten zu den Küstenfelsen und sahen jemanden fallen. Tristan ahnte, wer es war. Der Körper schlug auf dem steinigen Boden auf und blieb reglos liegen. Für Ortie war es, als hätte ein Pfeil eine Möwe im Flug durchbohrt und der Vogel wäre zu einem Stein geworden, der aus dem Himmel fiel. Sie wollte dorthin laufen, wo der Stein aufgetroffen war, doch Tristan hielt sie zurück. Er sah wieder zu den Küstenfelsen hinauf, konnte dort zwar niemanden entdecken, aber im Licht der sinkenden Sonne sah er die Spitzen von Lanzen, die sich hin und her bewegten. Dann verschwanden sie, alles war ruhig, nur die Brandung des Meeres donnerte an den Strand.
    »Ich muss nach Hause«, sagte er zu Ortie.
    Sie gab ihm zu verstehen, dass sie nach der Möwe sehen wollte. Du hast sie abgeschossen, mitten im Flug, bedeutete sie Tristan und klatschte in die Hände, um ihn dafür zu loben.
    »Das war keine Möwe, Ortie, das war ein Mensch. Geh nicht dorthin, geh in deine Höhle. Ich hole dich morgen dort ab und bringe dir wieder Wasser mit und Brot.«
    Plötzlich hatte er es eilig. Er hatte sich entschlossen, einen Umweg zu nehmen, um zur Burg zu kommen. Irgendetwas geschah hinter seinem Rücken, von dem er nichts wusste. So rannte er los, am Strand entlang, watete durch das Meer bis zur nächsten Bucht und stieg erst dort über einen steilen Pfad die Felswand hinauf.
    Die Burgmauer erreichte er, als es bereits dunkel zu werden begann. Schnell zog er sich den Schacht hinauf und schlich zum Eingang des Hauses. Im Hof befanden sich viele Reiter, Feuer waren angelegt, die Männer tranken und aßen, die Frauen liefen von den Feuerstellen zu den Tischen, Musik wurde gespielt. Rual musste zurückgekehrt sein.
    Tristan durchlief zugleich ein Schauer der Angst und der Freude. Er war nicht da gewesen und man hatte ihn vermisst. Rual würde ihm Fragen stellen, und er hatte nichts bei sich, keinen Hasen, keinen Fasan, nicht einmal eine Möwe, die er als Erklärung für seine Abwesenheit hätte vorzeigen können. Ihm fiel nichts anderes ein, als so zu tun, als hätte er sich auf seinen Streifzügen durch die im Gebiet der Burg liegenden Felder verletzt. Ohne zu zögern, ritzte er sich mit einem Stein den linken Fuß an, bis er blutete. Dann ging er hinkend an den Soldaten vorbei auf den Haupteingang zu und schickte

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