Tristan
einen der Wachmänner zu Floräte, um zu melden, dass er sich geschnitten habe. Kaum hatte er die Treppe erreicht, kam auch schon seine Mutter angelaufen und half ihm halb jammernd, halb scheltend durch den Flur bis zu seinem Lager. Dort wusch Merla die Wunde aus und verband sie, legte ihre Hand an Tristans Stirn und stellte fest, dass sie ganz heiß war.
Gleich flößte sie ihm einen Kräutertee ein und deckte ihn mit zwei zusätzlichen Fellen zu, damit er das Gift, das sie in ihm vermutete, ausschwitzen konnte. Da wurde der Vorhang vor dem Lager beiseitegeschoben, und Rual erschien.
Für einen Augenblick vergaß Tristan, dass er ein Leidender war, sprang aus seinem Bett und umarmte seinen Vater. Je fester der ihn an sich drückte, desto schneller erinnerte sich der Junge an seine gespielte Krankheit und gestand, dass er sich zwar freue, aber sehr schwach fühle. Rual legte ihn aufs Lager zurück, deckte ihn zu und fragte, was er denn den ganzen Tag gemacht und wo er sich verletzt habe.
»Ich war im kleinen Wäldchen beim Kloster und wollte uns einen Hasen schießen. Da bin ich in etwas getreten. Wahrscheinlich in eine abgebrochene Speerspitze.«
Rual nickte mit dem Kopf und beschwichtigte ihn. Die Wunde, habe ihm Merla gesagt, sei nicht so schlimm, der Umschlag mit der Salbe würde ihm guttun, und im Tee seien ein paar Kräuter, die ihm helfen würden, lange zu schlafen.
»Außerdem habe ich von meiner kleinen Reise einen Extrakt mitgebracht«, sagte Rual, »der dir auch guttun wird, schwarzer Holunder. Merla soll ihn mit ein wenig Portwein mischen und …«
Tristan hörte noch die Worte »schwarzer Holunder«, dann schloss er die Augen und schlief völlig ermattet ein.
Tagtraum vom Tang ~81~ Ortie gerettet
Im nächsten Morgen krähte kein einziger Hahn, und im Raum schwebte ein iiDuft, der eine köstlich fette Fischsuppe versprach. Tristan erwachte und sah auf dem hellen Vorhang vor seiner Bettstatt einen Lichtstreifen, der nur durch eines der kleinen Fenster kommen konnte, durch das die Sonne erst mitten am Tag schien. Er musste den gesamten Morgen verschlafen haben. Sofort dachte er an Ortie, wie sie aufgeregt und immer unruhiger werdend am Strand auf und ab ging und auf ihn wartete, wie sie zu den Felsen blickte und wieder aufs Meer, wie ihre innere Stimme nach Tristan rief und wie sie zugleich aus dem Rauschen der Brandung die Rufe ihrer Mutter vernahm, die sie lockte, bei ihr zu sein und zu bleiben. Weil Tristan nicht kam, wandelten sich die Rufe der Mutter in Schreie, sie verlangte nach Tang, um nicht zu verhungern, »Tang!«, schrie die Mutter, und Ortie rief dasselbe Wort gegen die Wellen, »Tang!«, schrie sie zurück, blickte zu den Felsen und brüllte gegen das Meer: »Ich bring dir deinen Tang!«
Tristan stand auf und zog sich an. Merla versorgte die Feuerstelle, freute sich, dass er so fest und lange geschlafen hatte, und rührte unverdrossen in dem Topf mit der Suppe, während sie Tristan erklärte, der Marschall und seine Frau wären bei den Mönchen, um die Begehung des Jahrestags des Königsbegräbnisses zu besprechen. »Du weißt doch, unser König Riwalin und seine Gemahlin Blancheflur«, begann sie, »sind vor …«
Er hörte nicht zu. Hinter Merlas Rücken nahm sich Tristan ein Stück Brot und etwas Käse von einem Holzbrett und stahl sich davon. Eilig rannte er zu seinem Versteck hinter dem Hühnerstall, wartete dort mit vor Ungeduld zitternden Beinen, bis die Wachsoldaten an ihrem Abschnitt der Burgmauer kehrtmachten, und verschwand im geheimen Ausstieg.
Kaum war er am Fuße der Burg angekommen, rannte er auf dem geradesten Weg in Richtung Küste. Es war ihm ganz einerlei, ob ihn die Wachsoldaten von den Zinnen aus dabei beobachteten. Sie konnten ohnehin nur einen laufenden Jungen erkennen, und das mochte irgendwer sein. Er musste so schnell wie möglich nach Hegennis gelangen und verhindern, dass Ortie ins Meer ging, um ihre Mutter zu suchen. Vielleicht hatte sie inzwischen den toten Yella gefunden - denn niemand anders konnte es gewesen sein, der dort von der Klippe gefallen war - und lief entsetzt vor dem fremden Tod davon in den eigenen.
Tristan stürmte durch den Kiefernwald und kroch, um nicht vor lauter Atemlosigkeit und Schwindel das Gleichgewicht zu verlieren, auf den Abhang zu, von dem aus er seinen Strand überblicken konnte. Er sah Ortie, wie sie im Kreise ging, wunderte sich, aber er war nicht zu spät gekommen. Als er sich beruhigt hatte, stieg er den Pfad
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