Tropfen im Ozean
Antibiotikum. Blut im Urin? Liegt an der Blasenentzündung. Zur Beobachtung soll ich eine Nacht hier bleiben.
Ich überreiße das nicht. Die Welt rauscht an mir vorbei und ich bin kein Teil mehr von ihr. Abgekoppelt. Schwebezustand. Bin nicht hier und nicht da, weder in der Welt noch von ihr. Fühle mich so dunkel im Kopf. Schwarzgekleidete, unfreundliche Nonnen bringen mich in ein Zimmer mit vielen Gitterbetten. In eines davon, das am Fenster, legen sie mich hinein. Ich verstehe nicht. Ich war noch nie von zuhause fort. Noch nie. Meine Mutter gibt einer alten Nonne, deren Mund so streng ist, dass man keine Lippe mehr erkennt, einen Beutel mit Sachen drin. Dann dreht sie sich um. Was soll das? Sie dreht sich um? Ein unendlich panisches Gefühl schießt in mir hoch, das mich bis in die kleinste Zelle durchflutet: Mama geht weg! Sie lässt mich allein! Sie geht weg! Sie geht weg!
Ich brülle wie am Spieß. Ich brülle und brülle, brülle um mein Leben, brülle, wie ich noch nie in meinem Leben gebrüllt habe. Fühle die vertrockneten Hände der Nonne wie Klauen auf meinen Armen. Mama geht. Kein Blick mehr zu mir. Sie geht schnell... sie will von mir weg. Sie will mich nicht haben! Noch einmal brülle ich mit voller Kraft, lege alles, alles, was ich habe, in diesen einen, letzten Schrei: Meine Liebe, meine Angst, mein Vertrauen, mein Entsetzen.
Er verhallt ohne Wirkung.
Danach ist alles anders. Alles ist fremd. Die Welt ist gefährlich und ich will nicht mehr dazu gehören. Ich weiß nicht, was geschehen ist. Alles ist weg. Keine Erinnerung, alles gelöscht. Mein Hirn schützt mich, vergräbt das Schmerzhafte in den Tiefen meines Seins.
Das Verhältnis zu meiner Mutter wird so, wie ich es immer kannte. Ich bin biestig. Ich bin störrisch. Ich bin introvertiert. Ich leiste dauernd und immer Widerstand. Ich will keine neue Unterhose anziehen. Ich will ein Buch, mit dem ich fliehen kann, und sonst nichts. Rückzug in eine heile Welt. Ich will so gern gestreichelt werden, aber ich will nicht, dass mich einer anfasst, weil das böse endet. Mama versucht mir einen Pyjama anzuziehen. Ich kreische auf und schlage sie. Sie ist fassungslos. Ich auch. Ich bin böse. Ich weiß nicht, warum ich so bin. Niemand will mich. Auch der Mann nicht. Er schaut mich nicht an. Tut so, als ob es mich nicht gäbe. Emilie tanzt im Haus umher und meine Mutter freut sich über sie, weil ich so garstig bin. Emilie hungert nach Liebe und spürt, dass sie die meiner Eltern haben kann. Sie hat Angst, diese zu verlieren und tut alles dafür, dass es so bleibt. Sie flüstert meiner Mutter Dinge ins Ohr, Dinge, die ich angeblich gemacht habe, gesagt habe. Sie ist nicht Mutters Kind, aber sie könnte es doch sein... besser als ich. Subtil erfasst sie ihre Chancen, findet heraus, wie es funktioniert. Es ist simpel, weil ich alle Vorlagen liefere, die sie braucht – sie gestaltet ihr Verhalten schlicht konträr zu meinem. Sie badet in der Liebe meiner Mutter, kann es nicht ertragen, diese Liebe zu teilen... sie tut alles, um ihr Gewicht zu stärken und meins zu schwächen. Das geht ganz leicht, denn ich fühle mich innen scheußlich, verletzt, verlassen und ängstlich. Ich habe jegliches Vertrauen in irgendetwas verloren. Die Welt schwimmt wie in einem Aquarium an mir vorbei ohne die Möglichkeit, mitzumachen, hineinzuspringen, teilzuhaben. Ich habe kein Vertrauen zu dieser Welt und die Welt nicht zu mir. Wild schlage ich um mich, sobald mir einer zu nahe kommt, fährt ein Mechanismus Stacheln aus, die ich nicht haben will. Mama wird zu jemandem, der mich im Stich gelassen hat. Sie ist jemand, dem man nicht vertrauen kann. Sie ist jemand, der nicht da ist, wenn ich sie am nötigsten brauche. Spürt sie diese Haltung? Ja, sie spürt sie. Und wendet sich umso mehr von mir ab. Sie tut genau das, was ich von ihr erwarte. Sie lässt mich weiterhin im Stich. Schmerz ist mein Körper. Schmerz mein Herz. In dem Bemühen, es vor weiterer Qual zu schützen, umhülle ich es mit allem Möglichen, doch kann es nur anziehen, was es ausstrahlt und das ist weiterer Schmerz. Das Leben ist eine einzige sich selbsterfüllende Prophezeiung.
Der Mann hat ein Auge auf Emilie geworfen. Ich habe Angst vor ihm, weiß nicht, warum, er ist doch nett, sagt Mama, aber ich hasse es, dass er mich ignoriert, dass ich ein Nichts bin. Ich sehe, wie er sich in Emilies Nähe aufhält, doch bevor er eine Chance hat, ziehen wir um – und Emilie kommt nicht mehr in dieses Haus, die
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