Tropfen im Ozean
aufgeschlossen und ich fühlte mich wie immer wie das Stiefkind. Ich war nicht schön. Mein Hintern war dick, meine Haut wies immer noch Unreinheiten auf, meine Augen waren klein wegen des Schlafmangels.
Emilie hatte mir nicht nur meine Eltern ausgespannt. Sie hatte mir jeden ausgespannt, der nur den Anschein machte, sich für mich zu interessieren. Und hatte immer die Unschuld gespielt. ‚Ich kann doch nichts dafür! Ich mach doch gar nix!’.
Für sie war es einfach: Sie musste ja nur auftauchen und schon fielen alle um. Also tauchte sie einfach immer da auf, wo ich auch war. Und tat dann das, was sie meinte, tun zu müssen.
Meine ganze Jugend war, seit Emilie in mein Leben getreten war, Frust pur. Als Kinder waren wir nur zwei kleine Mädchen gewesen, die unschuldig im Sand miteinander gespielt hatten, waren uns keines Unterschiedes bewusst gewesen. Sie war meine Freundin und ich die ihre. Ihre Eltern waren Sozialfälle und meine Mutter sagte oft:
„Bring Emilie zum Essen mit, ihre Mutter kümmert sich nicht so um sie“.
Doch genau da, bei meinen Eltern, fingen wir beide an, Unterschiede festzustellen. Meine Mutter schaute Emilie anders an als mich. Mein Vater war freundlicher zu Emilie als zu mir. Und als wir dann älter wurden, wurden die Unterschiede noch größer. Emilie ging oft mit uns weg, ins Schwimmbad, ins Kino, zu McDonald... sie war fast überall mit dabei. Und da machten auch all die anderen Leute Unterschiede: Ach, ist die hübsch – so ein süßes Ding! Emilie war die Tochter meiner Eltern, ich war jemand, den man übersah.
Aber da hatten sie die Rechnung ohne mich gemacht! Meine Gegenmaßnahme ergriff ich nicht bewusst, dafür umso vehementer: Ich fing an, mich in Szene zu setzen, damit die Leute auch mal zu mir schauten. Ich spürte genau, wenn sie es nur taten, um gerecht sein zu wollen. Aber Kinder rufen die Dinge auf einer sehr unterschwelligen Ebene ab. Und obwohl ich das damals ganz sicher nicht analysieren konnte, merkte ich sehr genau, dass die meisten nur aus Pflichtgefühl mit mir redeten. Mir war höfliche Aufmerksamkeit gegönnt, Emilie strömten die Herzen zu. Also profilierte ich mich auf Teufel komm raus und tat mir damit keinen Gefallen. Denn nun war ich nicht nur nicht hübsch, nun war ich obendrein auch noch unsympathisch, ein schwer zu ertragendes Kind, das sich dauernd in den Vordergrund zu drängen versuchte, während Emilie hübsch und brav, mit einem herzlichen Lächeln auf dem Gesicht die Welt im Flug eroberte. Sie hatte ihr Rezept fürs Leben gefunden. Meines funktionierte hingegen überhaupt nicht
Was die Sache erschwerte, war, dass Emilie auch auf alle meine weiblichen Freundschaften feindselig reagierte und sie an jeder etwas auszusetzen hatte. Sie hing an mir dran und ließ nicht los, während ich krampfhaft nach Möglichkeiten suchte, mir die Zuneigung meiner Eltern oder anderer Leute zu sichern.
Doch mit den Jahren begann sich ein weiterer Unterschied zwischen uns herauszuschälen: Emilie war nicht die Schlauste. Sie machte ihren Hauptschulabschluss, ich besuchte das Gymnasium – ein Umstand, den zumindest mein Vater würdigte – und mir Hoffnung gab. Er erklärte mir immer und immer wieder, dass Leistung das Allentscheidende im Leben sei und so versuchte ich zu leisten. Logisch, was tut man nicht alles für die Liebe von egal wem!
Durch die Anforderung der Umwelt nahm die Evolution ihren Lauf, die Mutation vollzog sich, das Chamäleon entstand. Meine Sinne waren geschärft für die Erwartungen anderer und kollidierten mit meinem eigenen Überlebenstrieb. Ich lief zwischen Profilierung und Anpassung, ein schwieriger Akt.
Verbissen forschte ich, im Trial- und Error-Verfahren, wie man denn sein musste, um Akzeptanz und Liebe zu bekommen, und mit der Zeit kapierte ich, dass es verschiedene Typen von Menschen gab, die alle unterschiedliche Werte hatten und unterschiedlich reagierten. Das machte die Welt für mich anstrengend und kompliziert. Das Leistungsprinzip meines Vaters war zwar ein Pfeiler, auf den ich mich stützte, aber er stand konträr zu meiner Anpassungstaktik, denn ich versuchte nicht nur zu leisten, ich versuchte auch klarzumachen, was ich alles tat.
Meine Mutter nervte es, wenn ich ihr begeistert die Abläufe in den menschlichen Zellen und den Mitochondrien erklärte. Sie war jedes Mal sichtlich froh, wenn ich wieder auf mein Zimmer verschwand, um weiteres Wissen in mich hineinzustopfen, in der Hoffnung, meinen Wert damit zu vergrößern.
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