Tropfen im Ozean
Und sie war und blieb desinteressiert, was Schule, mein Umfeld, meine Entwicklung, meine ersten Freunde, die Wirren der Pubertät, die Beziehung mit Emilie und überhaupt mein ganzes Leben anging. Ein Grund mehr für mich, ihr dauernd zu erzählen, wie schwer diese und jene Prüfung gewesen sei, wie ich es dennoch geschafft hätte, eine Zwei zu bekommen. Die Antwort meiner Mutter blieb immer gleich: „Na, so was“, sagte sie, als ich ihr erzählte, dass die Abiturprüfungen anstanden. „Na so was“, als ich ihr erzählte, dass ich das Abitur bestanden hatte - sie hatte es nicht von sich aus wissen wollen. „Na, so was“ ihr Kommentar, als ich heulend im Zimmer saß, weil der dritte Freund in Reihe mich wegen Emilie hatte sitzen lassen. Vermutlich konnte sie die Freunde verstehen. „Na, so was“, als ich um einen Studienplatz kämpfte und ihn bekam. „Na so was“, als ich das Staatsexamen machte, die Absagen kassierte und schließlich bei J untergekommen war. Sie fragte nie. Niemals. Wie war es in Amerika gewesen? Was hast du da gemacht? Wieso bist überhaupt dahin geflogen? Was genau machst du eigentlich in deinem Beruf? Oder schlicht und ergreifend ein simples, ein mir die Tränen in die Augen treibendes ehrliches „Wie geht es dir?“, das eine Antwort will... all das kannte ich nicht.
Ich verstand die Welt nicht. Ich sah, dass ich nicht hübsch war und mein Vater sagte, ich solle was leisten, was ich auch tat. Aber das war keine Lösung. Ich spürte keine Liebe. Was machte ich nur falsch? Für mein Gesicht konnte ich nichts. Und ansonsten tat ich alles, was die Erwachsenen von mir wollten. Bis ich merkte, dass dieses Verhalten mehr als kontraproduktiv war. Und es mich erschöpfte. Ich kann mich daran erinnern, wie ich nach dem Abitur, dem Gerangel um eine gute Note, dem ständigen, jahrzehntelangen Kampf um Aufmerksamkeit und dem ebenso hartnäckigem Desinteresse meiner Eltern an meinem Schulabschluss und meinem künftigem Leben in ein tiefes Loch fiel. Ich wurde depressiv, ohne es zu erkennen, hatte tagelang, wochenlang in meiner Studentenbude geweint und geglaubt, ich hätte Heimweh.
Tatsache blieb, dass ich maßlos verwirrt über die Regeln des Lebens war, die sich ständig zu ändern schienen. Und das war heute noch so.
Emilies und mein Schicksal trennte sich, als sie, viel früher als ich, ins Berufsleben eintrat.
Ich hörte von meiner Mutter, dass sie einen „netten Kerl“ gefunden hätte und von meinem Vater, sie sei mit einem Aufkracher versumpft. An Emilies Schicksal war meine Mutter rege beteiligt und sie wusste viel über sie. Sie jobbte, um sich über Wasser zu halten. („Die Arme!“, sagte meine Mutter) Den Beruf als Zahnarzthelferin hatte Em recht bald hingeschmissen. Ab und zu hatte sie mir geschrieben, mich angerufen, wenn es ihr nicht gut ging und ich hatte getan, was ich konnte. Mit ihr gesprochen, versucht, ihre Probleme zu lösen, ihr Mut gemacht, Geld gegeben. Ich mochte sie trotz allem und unsere Kindheit hatte uns nun mal miteinander verbunden.
Doch irgendwann hatten wir uns ganz aus den Augen verloren und es war eine Erlösung für mich gewesen. Endlich war niemand mehr neben mir, mit dem ich unfreiwillig in Wettstreit treten musste, und der diesen ständig herausforderte. Immer, wenn wir gemeinsam ausgegangen waren, hörte ich Sätze wie „Warum gehen immer eine Hässliche und eine Hübsche miteinander aus?“ oder „Ist das deine Anstandsdame?“
Nun endlich war ich mein eigenes Kapital – auch, wenn es natürlich um mich herum nach wie vor viel besser aussehende Frauen als mich gab, aber die waren seltsamerweise für mich nie ein Problem.
Ich schnaufte tief durch. Heute war ich eine andere Person. Ich hatte mich etabliert, studiert und einen Job, der richtig Geld abwarf. Und obendrein hatte ich in J einen äußerst gutaussehenden Liebhaber.
Ich würde anders auf sie reagieren. Reifer. Mein Selbstbewusstsein war gewachsen. Ich war nicht mehr die sich minderwertig fühlende Jugendliche, die nichts außer ihrem unscheinbaren Äußeren vorzuweisen hatte.
In Sekundenschnelle ließ mich Emilie wieder zu der Jugendlichen werden, die nichts außer ihrem unscheinbaren Äußeren vorzuweisen hatte. Es war ihre Sicht von mir, die sie mir mühelos überstülpte, sobald wir uns gegenüberstanden. Sie hatte sich in Schale geworfen und bezirzte meine Eltern wie eh und je. Ihre Beine erschienen mir länger, ihr Haar blonder und ihre Augen blauer.
Es gab Kaffee und
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