Tropfen im Ozean
selbst so einiges klar geworden. Es drängte mich danach, alles neu zu sortieren, aber ich wollte es hier machen, bei ihm, weil ich spürte, dass er mich auf einer Spur halten würde, die mir gut tat, die mich nicht auf falsche Wege führte - in diesen unkontrollierbaren Zorn.
„Eigentlich“, fuhr ich fort. „... ist mir gerade bewusst geworden, wie viel Müll auf mir liegt... aber...“ verzweifelt sah ich ihn an. „Ich weiß nicht, warum! Weshalb ich mich so verhalte! Warum meine Eltern mich nicht mögen! Was mache ich falsch? Was ist an mir so sch...“ unwillkürlich bremste ich mich. In seiner Gegenwart kam mir jedes Schimpfwort unangemessen vor. Etwas ruhiger fuhr ich fort:
„Was hab ich an mir, dass es so ist? Warum die Sache mit J? Ich meine, es gibt ja auch andere... Elisha, Rob, Susann, Bernd... mit denen komme ich wunderbar klar... aber... aber...“
„Schschschsch...“ machte er und drückte mich wieder sanft an sich. „Das klären wir, ganz sicher, das verspreche ich dir... wir klären das, wenn du den Mut dazu hast – und den hast du ja – aber jetzt bist du müde... du musst ins Bett und dich ausruhen...“
Dankbar sah ich ihn an. Und als ich in diese hellen Augen sah, schoss es mir wie ein Blitz durch den Kopf: Er hatte Recht. Ich hatte ihn gerufen. Ich erinnerte mich daran, mir gewünscht zu haben, einen Lehrer zu bekommen, einen, der authentisch war, der da war für mich. Und hier... hier war er. Dankbarkeit füllte mein Herz und zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich so etwas wie Vertrauen in mir aufsteigen. Vertrauen zu der Instanz, die das möglich gemacht hatte, Vertrauen zum Leben, zu mir. Erschüttert nahm ich das wahr: Die Tatsache, bislang kein echtes Vertrauen gehabt zu haben. Wenn die Gesetze der Resonanz stimmten, dass alles zurückkommt, was man empfindet, denkt, fühlt... was konnte mir dann das Leben mit dieser Prämisse schon bringen?
Der alte Mann beobachtete mich. Als ich meinen Blick hob, begegneten sich unsere Augen und er klopfte mir aufmunternd auf die Schulter.
„Siehst du“, sagte er. „Da hast du doch schon etwas sehr Wichtiges erkannt... wir werden den Knackpunkt schon finden“.
Ich blieb stumm. Ich wollte nur eines. Hier mit ihm sitzen und ihn fühlen. Dieses Tiefe, diese Stille, sein Wesen. Das allein war schon so viel.
Schweigend brachte er mich zur Tür. Wieder hoffte ich auf die magischen Worte, die mir im Moment die Welt bedeuteten.
„Dann bis morgen, mein Kind“, lächelte er mich an. Verschmitzt, wie mir schien. Wie immer hatte er meine Gedanken erraten.
„Bis morgen“, flüsterte ich. „Und... danke... danke! Danke, dass du mir zugehört hast, danke, dass ich hier sein darf...“
„Es ist gut... wirklich“, sagte er. „Komm morgen etwas früher, wir haben viel vor“.
In einer Bäckerei kaufte ich buttrige Croissants, tat sie in meinen Korb, in dem sich schon ein gekühlter Salat nebst Dressing, Besteck, Servietten und Tellern befand. Der Himmel war diesmal etwas bewölkt, aber es war warm und zur Sicherheit hatte ich eine Regenjacke dabei.
Wartend stand er an der Tür, lächelnd, die Hand zum Gruß schon von weitem erhoben. Wie immer, wenn ich ihn sah, öffnete sich mein Herz und mit jedem Schritt, dem ich ihm entgegen kam, schienen alle Alltagssorgen furchtbar nichtig zu werden.
Als er mir die Hand gab, spürte ich, wie sich mein Körper ihm instinktiv zuneigte, als wolle ich ihn umarmen. Aus Angst, zu aufdringlich zu sein, stoppte ich die Bewegung. Und auch erschrocken über mich, weil ich so sehr seine Nähe suchte.
Er allerdings hatte meine kurze Bremsbewegung ganz richtig gedeutet und als der Bruchteil dieser Sekunde abgeklungen war, umarmte er mich so leicht wie ein Windhauch. Unsere Wangen berührten sich, ganz kurz fühlte ich die Weichheit seiner Haut, roch seinen Duft nach Vanille und Wald. Er ließ seine Hand auf meiner Schulter und grinste mich wieder mit diesem unwiderstehlichen Lächeln an.
„Du fühlst dich gut an“, sagte er und ließ mich los.
„Und du riechst so gut“, murmelte ich.
Wieder hatte er alles vorbereitet. Das Tischchen mit Dekoration, den Tee, die Sitzkissen. Es sah alles so liebevoll und sorgfältig aus, dass ich mich ihm zuwandte und mit feuchten Augen sagte:
„Vielen Dank, dass du dir diese Mühe machst. „...das ist so lieb...“
Er lächelte und schenkte Tee ein, während ich mich setzte.
„Wie hast du geschlafen?“ erkundigte er sich.
„Unruhig“, antwortete
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