Trübe Wasser sind kalt
»Wahrscheinlich nicht.« Ich schaute auf das Buch auf dem Teetisch und fragte Marino: »Dieser Name auf dem Einband. Weißt du, wer Dwain Shapiro ist?«
»Darauf wollte ich gerade kommen«, sagte er. »Alles, was wir dem Computer haben entlocken können, ist, daß er in der Siedlung der Neuen Zionisten in Suffolk gelebt hat, aber letzten Herbst abgehauen ist. Etwa einen Monat später ist er bei einem Autoüberfall in Maryland umgekommen.«
Wir schwiegen eine Weile, und die dunklen Fenster des Landhauses kamen mir wie große, viereckige Augen vor. Dan n fragte ich: »Irgendwelche Verdächtigen oder Zeugen?«
»Keine bekannt.«
»Wie ist Eddings an Shapiros Bibel gekommen?« sagte Lucy. »Das ist offensichtlich die Zwanzigtausend-Dollar-Frage«, erwiderte Marino. »Vielleicht hat Eddings irgendwann mit ihm oder mit seinen Angehörigen gesprochen. Das hier ist nicht irgendeine Kopie, und es heißt auch gleich am Anfang, daß keiner sein Buch jemals aus der Hand geben soll. Und wenn einer mit dem Buch eines anderen erwischt wird, kann er sein Testament machen.«
»Das ist ziemlich genau das, was Eddings passiert ist«, sagte Lucy. Ich wollte das Buch nicht in der Nähe haben und wünschte, ich hätte es ins Feuer werfen können. »Ich mag das nicht«, sagte ich. »Mir gefällt das ganz und gar nicht.«
Lucy schaute mich seltsam an. »Du wirst mir doch nicht abergläubisch, oder?«
»Diese Leute sind im Pakt mit dem Bösen«, sagte ich. »Und ich bin mir bewußt, daß es das Böse in der Welt gibt, und das sollte man nicht zu leicht nehmen. Wo genau in Eddings' Haus hast du dieses scheußliche Buch gefunden?« fragte ich Marino. »Unter seinem Bett«, sagte er. »Im Ernst?«
»Ich bin völlig ernst.«
»Und es steht fest, daß Eddings allein gelebt hat?« fragte ich.
»Sieht so aus.«
»Und was ist mit der Familie?«
»Vater tot, ein Bruder ist in Maine, und die Mutter lebt i n Richmond. Sogar ganz in der Nähe deines Hauses.«
»Hast du mit ihr gesprochen?« fragte ich.
»Ich habe kurz bei ihr vorbeigeschaut und ihr die traurige Nachricht überbracht und gefragt, ob wir das Haus ihres Sohnes gründlicher durchsuchen dürfen, was wir morgen auch tun werden.« Er blickte auf die Uhr. »Oder besser gesagt, heute.«
Lucy stand auf und ging zum Kamin. Sie stützte einen Ellbogen aufs Knie und legte das Kinn in die Hand. Hinter ihr glühten die Scheite in einem tiefen Aschenbett.
»Woher weißt du, daß diese Bibel ursprünglich von den Neuen Zionisten kam?« sagte sie. »Mir scheint, du weißt nur, daß sie von Shapiro kam, und wie können wir sicher sein, wo er sie her hatte?«
Marino sagte: »Shapiro war bis vor drei Monaten ein Neuer Zionist. Ich habe gehört, daß Hand nicht gerade Verständnis dafür hat, wenn Leute ihn verlassen wollen. Ich frage dich nur eines. Wie viele ehemalige Neue Zionisten kennst du?«
Lucy konnte es nicht sagen. Und ich genausowenig.
»Er hat seit mindestens zehn Jahren seine Jünger. Und nie hören wir etwas davon, daß einer ihn verläßt?« fuhr er fort. »Wie zum Teufel sollen wir wissen, wen er alles auf seiner Farm beerdigt hat?«
»Wie kommt es, daß ich nie etwas von ihm gehört habe?« wollte sie wissen.
Marino stand auf, um uns Champagner nachzuschenken. Er sagte: »Weil sie am MIT und an der UVA keine Vorlesungen über ihn halten.«
Kapitel 5
Im Morgengrauen blickte ich vom Bett aus auf Mants hinteres Grundstück. Es lag hoher Schnee, und hinter der Düne warf die aufgehende Sonne ihren Glanz auf das Meer. Ich schloß noch einmal die Augen und dachte an Benton Wesley. Ich fragte mich, was er über meinen derzeitigen Aufenthaltsort sagen würde und was wir einander zu sagen hätten, wenn wir uns später am Tag trafen. Wir hatten seit der zweiten Dezemberwoche nicht mehr miteinander gesprochen, als wir beschlossen hatten, daß wir unsere Beziehung beenden mußten.
Ich drehte mich auf die Seite und zog mir die Decke über die Ohren, als ich leise Schritte hörte. Dann spürte ich, wie Lucy sich auf die Bettkante setzte.
»Guten Morgen, liebste Nichte auf der Welt«, murmelte ich. »Ich bin deine einzige Nichte auf der Welt.« Sie sagte, was sie immer sagte. »Und wie hast du gewußt, daß ich es bin?«
»Gut, daß du es bist. Allen anderen könnte es übel ergehen.«
»Ich habe dir Kaffee gebracht«, sagte sie. »Du bist ei n Engel.«
»Das sagen alle.«
»Ich wollte nur nett sein.« Ich gähnte.
Sie beugte sich zu mir, um mich in den Arm zu nehmen, und ich
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