Trübe Wasser sind kalt
grandiosen Blick auf den James River bot, und spät am Tag konnte ich den Sonnenuntergang über den Bäumen am Flußufer beobachten.
Neben meinem Schlafzimmer war ein Büro, das mir endlich genügend Arbeitsraum bot, und ich schaute erst einmal nach, ob irgendwelche Faxe eingetroffen waren. Es lagen vier da. »Irgendwas Wichtiges?« fragte Lucy, die mir gefolgt war, während Marino Kisten und Taschen holte.
»Sie sind alle für dich, von deiner Mutter.« Ich reichte sie ihr. Sie runzelte die Stirn. »Warum sollte sie mir hierher faxen?«
»Ich habe ihr nie gesagt, daß ich kurzfristig nach Sandbridge ziehen würde. Du etwa?«
»Nein. Aber Großmutter sollte doch wissen, wo du bist, nicht?« sagte Lucy. »Natürlich. Aber meine Mutter und deine kommen nicht immer miteinander klar.« Ich schaute auf das, was sie las. »Alles in Ordnung?«
»Sie ist komisch. Weißt du, ich habe ihr ihren Computer mit einem Modem und CD-ROM aufgerüstet und ihr gezeigt, wie man das benutzt. Mein Fehler. Jetzt hat sie andauernd Fragen. In jedem einzelnen dieser Faxe geht es um eine Computerfrage.«
Sie ging irritiert die Seiten durch.
Ich verstand mich mit ihrer Mutter Dorothy auch nicht besonders gut. Sie war meine einzige Schwester, aber sie konnte sich nicht einmal dazu durchringen, ihrem einzigen Kind ein frohes Neues Jahr zu wünschen.
»Sie hat sie heute geschickt«, fuhr meine Nichte fort. »Es ist Feiertag, und sie schreibt wieder an einem ihrer dämlichen Kinderbücher.«
»Nur um der Gerechtigkeit willen«, sagte ich, »ihre Bücher sind nicht dämlich.«
»Ja ja, schon recht. Ich weiß nicht, wo sie ihre Recherchen angestellt hat, jedenfalls nicht da, wo ich aufgewachsen bin.«
»Ich wünschte mir, ihr würdet euch nicht so in den Haaren liegen.« Diesen Kommentar gab ich schon Lucys ganzes Leben lang von mir. »Eines Tage s wirst du dich mit ihr aussöhnen müssen. Spätestens, wenn sie stirbt.«
»Du denkst immer an den Tod.«
»Das tue ich, weil ich ihn kenne, und der Tod ist die andere Seite des Lebens. Du kannst ihn nicht ignorieren, genausowenig wie die Nacht. Du wirst mit Dorothy zurechtkommen müssen.«
»Nein, muß ich nicht.« Sie schwang meinen Ledersessel herum und setzte sich mir gegenüber. »Das hat keinen Sinn. Sie hat mich noch nie auch nur ein bißchen verstanden.« Das stimmte vermutlich.
»Du kannst gern meinen Computer benutzen«, sagte ich.
»Es dauert nur eine Minute.«
»Marino holt uns um vier ab«, sagte ich.
»Ich wußte gar nicht, daß er weg ist.«
»Nur kurz.«
Tasten klapperten, als ich in mein Schlafzimmer ging und mit dem Auspacken und Planen begann. Ich brauchte einen Wagen und fragte mich, ob ich einen mieten sollte, und ich mußte die Kleider wechseln, wußte aber nicht, was ich anziehen sollte. Es grämte mich, daß ich bei dem Gedanken an Wesley immer noch in Verlegenheit geriet, was ich anziehen sollte, und als die Minuten verstrichen, bekam ich richtig Angst, ihn zu sehen. Marino holte uns zur vereinbarten Zeit ab. Er hatte irgendwo eine Waschanlage gefunden, die offen hatte, und getankt. Wir fuhren die Monument Avenue Richtung Osten in das Viertel, das The Fan genannt wurde, wo Herrenhäuser historische Prachtstraßen anmutig säumten und Collegestudenten alte Häuser mit Leben erfüllten. Beim Denkmal für Robert E. Lee bog er in die Grace Street, wo Ted Eddings in einem weißen Duplex im spanischen Stil gewohnt hatte. Ein rotes Weihnachtsbanner hing über einer Holzveranda mit einer Schaukel. Leuchtgelbe Tatortabsperrungen gingen von Pfosten zu Pfosten, morbide Parodie einer weihnachtlichen Verpackung. In fetten schwarzen Buchstaben wurden Neugierige davor gewarnt, sich dem Haus zu nähern. »Unter den gegebenen Umständen wollte ich keinen hier drin haben, und ich wußte nicht, wer noch einen Schlüssel hat«, erklärte Marino, als er die Haustür aufschloß. »Ich kann keinen naseweisen Vermieter brauchen, der sein verdammtes Inventar überprüfen will.«
Es war noch keine Spur von Wesley zu sehen, und ich kam schon zu dem Entschluß, daß er nicht auftauchen würde, als ich das Geräusch seines grauen BMW hörte. Er parkte am Straßenrand, und ich sah, wie die Antenne eingefahren wurde, als er den Motor abstellte.
»Doc, ich warte auf ihn, wenn du schon reingehen willst«, sagte Marino zu mir.
»Ich muß mit ihm reden.« Lucy kam die Treppe wieder herunter.
»Ich bin drinnen«, sagte ich, als würde ich Wesley nicht kennen, und streifte mir Baumwollhandschuhe
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