Trügerische Ruhe
Wind. »Wie geht’s Noah heute morgen?«
»Ich habe ihn von Kopf bis Fuß untersucht, und von seinem Schnupfen abgesehen scheint er bei bester Gesundheit zu sein. Ich habe ihn mit Fruchtsaft und Nasentropfen im Bett zurückgelassen.«
»Und die phosphoreszierende Substanz? Haben Sie eine Kultur davon angelegt?«
»Ja. Ich habe den Abstrich gleich eingeschickt.« Sie zog die Jacke aus. Max war es endlich gelungen, den Holzofen in Gang zu bringen, und im Zimmer war es drückend heiß. Sie hätte fast den eisigen Wind draußen vorgezogen. Hier drinnen, in der von Rauch getrübten Luft, umgeben von Max’ Gerümpel, hatte sie das Gefühl, sie müßte ersticken.
»Ich habe gerade Kaffee gekocht«, sagte er. »Setzen Sie sich falls Sie einen freien Stuhl finden können.«
Sie sah sich in der beengten Stube um und entschied sich, ihm in die Küche zu folgen. »Erzählen Sie mir doch von den Ergebnissen dieser Wasserkulturen, die Sie entnommen haben, bevor der See zugefroren ist.«
»Der Bericht ist heute morgen gekommen.«
»Warum haben Sie mich nicht gleich angerufen?«
»Weil es nicht viel zu berichten gibt.« Er durchwühlte einen Stapel Papiere auf der Küchentheke und reichte ihr einen Computerausdruck. »Hier. Die endgültige Identifizierung aus dem Labor.«
Sie überflog die lange Liste von Mikroorganismen. »Die meisten davon kenne ich nicht«, sagte sie.
»Das liegt daran, daß es keine Pathogene sind – sie verursachen keine Krankheiten beim Menschen. Diese Liste enthält bloß die typischen Bakterien- und Algenarten, die man in jedem Süßwassersee im Norden findet. Der Wert für Kolibakterien ist leicht erhöht, was darauf hindeutet, daß irgendein Klärbehälter am See oder an einem der Zuflüsse undicht ist. Aber alles in allem ist es ein ganz gewöhnliches Bakterienspektrum.«
»Keine phosphoreszierenden Vibrio? «
»Nein. Wenn es je Vibrio im See gegeben hat, dann haben sie nicht lange überlebt, und das macht es unwahrscheinlich, daß sie für irgendwelche Erkrankungen verantwortlich sind. Höchstwahrscheinlich ist Vibrio nicht pathogen, sondern eine der harmlosen Bakterienarten, die wir alle mit uns herumtragen.«
Sie seufzte. »Das hat mir die staatliche Gesundheitsbehörde auch gesagt.«
»Haben Sie da angerufen?«
»Gleich heute morgen. Ich war so aufgeregt wegen Noah.«
Er reichte ihr eine Tasse Kaffee. Sie nahm einen Schluck und stellte dann die Tasse hin; sie fragte sich, ob Max zum Kaffeekochen wohl abgefülltes Wasser benutzt hatte, oder ob er in Gedanken Leitungswasser genommen hatte.
Aus dem See.
Ihr Blick wanderte zum Fenster, fiel auf die ausgedehnte weiße Fläche, die den Locust Lake kennzeichnete. Auf so vielfältige Weise bestimmte diese große Wasseransammlung das tägliche Leben der Menschen hier. Im Sommer schwammen und badeten sie darin, und sie zogen zappelnde Fische aus seinen Tiefen hervor. Im Winter glitten sie auf Schlittschuhen über seine Oberfläche, und sie isolierten ihre Häuser gegen den gnadenlosen Wind, der über die Eisfläche brauste. Ohne den See würde die Stadt Tranquility nicht existieren, und an dieser Stelle wäre nur ein weiteres Tal in einem riesigen, undurchdringlichen Waldgebiet.
Ihr Pager begann zu piepsen. Auf der Digitalanzeige erschien eine Nummer, die sie nicht kannte. Die Vorwahl war die von Bangor.
Sie rief von Max’ Telefon aus zurück, und eine Schwester des Eastern Maine Medical Center antwortete.
»Dr. Rothstein hat uns gebeten, sie anzurufen, Dr. Elliot. Es geht um den Kraniotomie-Patienten, den Sie letzte Woche überwiesen haben – Mr. Emerson.«
»Wie ist es Warren seit seiner Operation ergangen?«
»Nun, der Psychiater und der Sozialarbeiter haben ihn beide mehrmals besucht, aber nichts scheint zu helfen. Deshalb rufen wir Sie an. Wir dachten, da er Ihr Patient ist, wüßten Sie vielleicht, wie man mit dieser Situation umgehen kann.«
»Mit welcher Situation?«
»Mr. Emerson verweigert jegliche Medikation. Und was noch schlimmer ist, er ißt nichts mehr. Er nimmt nur noch Wasser zu sich.«
»Hat er einen Grund dafür genannt?«
»Ja. Er sagt, es ist Zeit für ihn zu sterben.«
Warren Emerson schien geschrumpft zu sein, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, als ob das Leben selbst allmählich aus ihm entwich wie Luft aus einem Ballon. Er saß auf einem Stuhl am Fenster und starrte hinunter auf den Parkplatz, wo schneebedeckte Autos in Reihen standen wie frische, weiche Brotlaibe. Er drehte sich nicht zu ihr
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