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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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um, als sie den Raum betrat, sondern blickte weiter unentwegt aus dem Fenster; ein müder Mann, ins Licht eines grauen Tages getaucht. Sie fragte sich, ob er ihre Gegenwart überhaupt bemerkte.
    Dann sagte er: »Es nützt ja doch nichts, wissen Sie. Also können Sie mich ebensogut in Ruhe lassen. Wenn deine Zeit kommt, kommt sie eben.«
    »Aber Ihre Zeit ist noch nicht gekommen, Mr. Emerson«, sagte Claire.
    Schließlich drehte er sich um, und wenn er überrascht war, sie zu sehen, ließ er es sich nicht anmerken. Sie hatte das Gefühl, daß ihn nichts mehr überraschen konnte. Er war jenseits von Freude und Leid. Er sah mit stumpfer Gleichgültigkeit zu, wie sie auf ihn zuging.
    »Ihre Operation war ein Erfolg«, sagte sie. »Man hat die Wucherung im Gehirn entfernt, und sie ist aller Wahrscheinlichkeit nach gutartig. Sie können guter Hoffnung sein, daß Sie wieder völlig gesund werden. Und ein normales Leben führen können.«
    Ihre Worte schienen keinerlei Wirkung auf ihn zu haben. Er drehte sich einfach wieder zum Fenster. »Ein Mann wie ich kann kein normales Leben führen.«
    »Aber wir können die Anfälle unter Kontrolle bekommen. Vielleicht können wir sogar dafür sorgen, daß sie nie mehr –«
    »Sie haben alle Angst vor mir.«
    Diese Feststellung, mit solcher Resignation ausgesprochen, erklärte alles. Dies war die Krankheit, für die es keine Heilung gab, von der er nie genesen würde. Sie konnte keine Operation anbieten, mit der man die Angst und den Abscheu hätte entfernen können, die seine Nachbarn ihm gegenüber empfanden.
    »Ich sehe die Angst in ihren Augen«, sagte er. »Ich sehe sie jedesmal, wenn ich auf der Straße an ihnen vorbeigehe oder wenn ich sie im Supermarkt aus Versehen streife. Es ist, als hätte man sie mit Säure verätzt. Niemand will mich anrühren. Seit dreißig Jahren hat mich niemand angerührt. Nur Ärzte und Krankenschwestern. Leute, die keine andere Wahl haben. Ich bin giftig, wissen Sie. Ich bin gefährlich. Sie halten alle Abstand, denn sie wissen, daß ich das Monster der Stadt bin.«
    »Nein, Mr. Emerson. Sie sind kein Monster. Sie machen sich Vorwürfe wegen der Dinge, die vor all den Jahren passiert sind, aber ich glaube nicht, daß es Ihre Schuld war. Es war eine Krankheit. Sie hatten keine Kontrolle über Ihre Handlungen.«
    Er sah sie nicht an, und sie fragte sich, ob er sie überhaupt gehört hatte.
    »Mr. Emerson?«
    Er starrte immer noch aus dem Fenster. »Es ist nett von Ihnen, mich zu besuchen«, murmelte er. »Aber es ist nicht nötig, daß Sie mich belügen, Dr. Elliot. Ich weiß, was ich getan habe.«
    Er holte tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen, und mit diesem Seufzer schien er noch weiter zusammenzuschrumpfen. »Ich bin so müde. Jeden Abend, wenn ich zu Bett gehe, rechne ich damit, daß ich nicht mehr aufwache. Ich hoffe es. Und jeden Morgen, wenn ich die Augen aufschlage, bin ich enttäuscht. Die Menschen glauben, es sei so schwer, am Leben zu bleiben. Aber wissen Sie, das ist noch das leichteste. Das schwere ist das Sterben.«
    Es gab nichts, was sie hätte sagen können. Ihr Blick fiel auf das unberührte Essenstablett, das am Fenster stand. Eine Hähnchenbrust in geronnener Soße, ein Häufchen Reis; die Körner glitzerten wie winzige Perlen. Und Brot, das Symbol des Lebens. Eines Lebens, das Warren Emerson nicht länger leben, nicht länger erdulden wollte. Ich kann nicht machen, daß du weiterleben willst, dachte sie. Ich kann dich mit Flüssignahrung künstlich ernähren, mit Hilfe eines Schlauchs, der durch ein Nasenloch in deinen Magen eingeführt wird, aber ich kann dir keine Lebensfreude einflößen.
    »Dr. Elliot?«
    Claire wandte sich um und sah eine Schwester in der Tür stehen.
    »Dr. Clevenger von der Pathologie ist am Telefon. Er möchte Sie sprechen. Apparat drei.«
    Claire verließ Warren Emersons Zimmer, ging hinüber ins Stationszimmer und nahm den Hörer ab. »Hier Claire Elliot.«
    »Ich bin froh, daß ich Sie erwischt habe«, sagte Clevenger. »Dr.Rothstein sagte mir, Sie kämen heute nachmittag hierher, und ich dachte, Sie hätten vielleicht Lust, runter in die Pathologie zu kommen und sich die Gewebsproben anzusehen. Rothstein ist gerade auf dem Weg nach unten.«
    »Welche Proben?«
    »Von dem Tumor im Gehirn Ihres Patienten. Es hat eine Woche gedauert, das Gewebe vollständig zu fixieren. Ich habe die Aufnahmen heute erst bekommen.«
    »Ist es ein Meningiom?«
    »Nichts dergleichen.«
    »Was ist es denn?«

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