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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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konnte sie immer noch eine Spur von Hoffnung empfinden, hauchdünn wie ein Spinnfaden; doch dieser Faden genügte ihr, um daraus ihre Phantasien zu spinnen, in denen sie wieder jung und reizend war, so unwiderstehlich, daß es ihr sicherlich gelingen würde, Lincoln wieder zu sich nach Hause zu locken, wie schon ein dutzendmal zuvor. Nüchtern bleiben, das war der Schlüssel. Oh, wie hatte sie sich bemüht, Kurs zu halten! Ein ums andere Mal war es ihr gelungen, Lincoln davon zu überzeugen, daß sie diesmal endgültig trocken war. Doch dann verspürte sie diesen vertrauten Durst, wie ein Jucken in ihrer Kehle, das ihr keine Ruhe ließ, und schließlich war da dieses unmerkliche Nachgeben der alten Willenskraft, der süße Geschmack von Coffee Brandy auf der Zunge, und schon taumelte sie wieder in den Abgrund, ohnmächtig, hilflos. Was sie letztlich am meisten schmerzte, war nicht das Gefühl des Scheiterns oder der Verlust ihrer Würde. Es war der resignierte Ausdruck in Lincolns Augen.
    Komm zurück zu mir. Ich bin immer noch deine Frau, und du hast versprochen, mich zu lieben und zu ehren. Komm doch nur noch einmal zurück.
    Draußen schwand das graue Licht des Nachmittags, und mit ihm schwanden auch alle Hoffnungen, die sie im Lauf des Tages gehegt hatte. Die Hoffnungen, von denen sie in ihren lichteren Momenten wußte, daß sie trogen. Mit der Abenddämmerung kam die Klarheit.
    Und die Verzweiflung.
    Sie setzte sich an den Küchentisch und goß sich den ersten Drink ein. Kaum war der Brandy in ihrem Magen angekommen, als sie auch schon spürte, wie die Hitze durch ihre Adern jagte, und mit ihr die ersehnte Welle von Taubheit. Sie goß sich einen zweiten ein, spürte, wie die Taubheit ihre Lippen erfaßte, ihr Gesicht. Ihre Ängste.
    Beim vierten Drink empfand sie schon keine Schmerzen mehr, keine Verzweiflung. Im Gegenteil, mit jedem Schluck fühlte sie sich ein wenig sicherer, ein wenig stärker. Flüssiges Selbstvertrauen. Sie hatte es einmal erreicht, daß er sich in sie verliebte; sie konnte es wieder erreichen. Sie hatte sich ihre Figur bewahrt – eine gute Figur. Und er war ein Mann, oder etwa nicht? Er war verführbar. Sie mußte ihn bloß in einem schwachen Moment erwischen.
    Sie richtete sich schwankend auf und zog den Mantel an.
    Draußen begann es gerade zu schneien, feine weiße Flocken senkten sich aus einem schwarzen Himmel herab. Der Schnee war ihr Freund; gab es einen besseren Schmuck für ihr Haar als ein paar glitzernde Schneeflöckchen? Sie würde vor seiner Tür stehen mit ihrem langen, offenen Haar, die Wangen von der Kälte hübsch gerötet. Er würde sie hereinbitten – er mußte sie hereinbitten –, und vielleicht würde ein Funke der Lust überspringen. Ja, ja, sie wußte es, so würde es sein, mit Schneeflocken in ihrem Haar.
    Aber sein Haus war zu weit entfernt für einen Fußmarsch. Es war Zeit, sich einen Wagen zu nehmen.
    Sie ging die Straße entlang zu Cobb and Morong’s. Es war eine Stunde vor Ladenschluß, die Zeit des abendlichen Ansturms, wo jeder auf dem Nachhauseweg noch schnell einen Karton Milch oder eine Tüte Zucker mitnehmen wollte. Wie Doreen es erwartet hatte, standen mehrere Autos an der Straße vor dem Supermarkt, einige mit laufendem Motor und eingeschalteter Heizung. Es ist nun einmal ausgesprochen bitter, an einem so kalten Abend ins Auto zu steigen und festzustellen, daß der Motor nicht anspringt.
    Doreen schlenderte die Straße entlang, begutachtete die Autos und überlegte, welches sie wohl nehmen sollte. Nicht den Transporter – das war kein Wagen für eine Lady; auch nicht den VW, weil sie keine Lust hatte, ihre Gedanken auf eine Gangschaltung zu verschwenden.
    Die grüne Limousine. Das war genau das richtige Auto für sie.
    Sie warf einen Blick auf den Eingang des Supermarkts, sah, daß gerade niemand herauskam, und schlüpfte schnell in die Limousine. Der Sitz war angenehm warm, und der heiße Atem der Heizung umströmte ihre Knie. Sie legte den Gang ein, drückte aufs Gas und schoß mit einem Ruck vom Rinnstein weg. Im Kofferraum war ein lautes Poltern zu hören.
    Sie fuhr davon und hörte noch jemanden schreien: »He! Hallo! Bringen Sie sofort mein Auto zurück!«
    Sie war schon ein paar hundert Meter Schlangenlinien gefahren, als sie endlich herausfand, wie die Scheinwerfer angingen, und nach weiteren hundert Metern schaffte sie es auch, die Scheibenwischer einzuschalten. Endlich hatte sie freie Sicht und konnte die Straße vor sich erkennen.

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