Trügerische Ruhe
Bildes würde ich sagen, daß eine Punktion unbedingt angezeigt ist.«
»Ich verstehe das nicht. Ich war mir so gut wie sicher mit der Diagnose«, sagte Claire. »Sie sehen keine Anzeichen für eine Zystizerkose?«
»Nein«, antwortete Chapman. »Keine Larvenzysten. Wie gesagt, das Gehirn sieht normal aus.«
»Auch die Bluttests sind normal«, bemerkte Thayer. »Bis auf die leicht erhöhten weißen Blutkörperchen, und das könnte auf Streß zurückzuführen sein.«
»Sein Differentialblutbild war nicht normal«, meinte Claire. »Er hat einen hohen Eosinophilwert, was zu einer Parasiteninfektion passen würde. Die anderen Jungen hatten auch erhöhte Eosinophilwerte. Damals habe ich dem keine Bedeutung beigemessen. Aber jetzt denke ich, daß ich den entscheidenden Hinweis übersehen habe.« Sie betrachtete die CT-Bilder. »Ich habe den Parasiten mit eigenen Augen gesehen. Ich habe gesehen, wie er aus dem Nasenloch meines Sohnes kam. Wir müssen nur noch die Spezies identifizieren.«
»Möglicherweise hat es nichts mit seinen Krämpfen zu tun, Claire. Dieser Parasit könnte eine eigenständige Krankheit sein. Höchstwahrscheinlich ist es bloß eine gewöhnliche Ascaris -Infektion. Die kann überall auf der Welt auftreten. Ich habe mal in Mexiko einen Jungen gesehen, der einen dieser Würmer heraushustete und ihn durch das Nasenloch ausschied. Ascaris würde keine neurologischen Symptome verursachen.«
»Aber Taenia solium. «
»Ist Warren Emersons Parasit schon identifiziert?« fragte Chapman. »Handelt es sich um Taenia solium? «
»Sein ELISA-Test soll morgen gemacht werden. Wenn er Antikörper gegen Taenia hat, wissen wir, daß wir es mit diesem Parasiten zu tun haben.«
Thayer, der immer noch die Aufnahmen betrachtete, schüttelte den Kopf. »Dieser CT-Scan weist keine Larvenzysten auf. Zugegeben, es könnte ein so frühes Stadium sein, daß man mit bloßem Auge nichts erkennen kann. Aber bis es soweit ist, müssen wir andere Möglichkeiten ausschließen. Enzephalitis. Meningitis.« Er schaltete die Beleuchtung des Filmbetrachters aus. »Es ist Zeit für die Rückenmarkspunktion.«
Eine Röntgenassistentin schaute zur Tür herein. »Dr. Thayer, Telefon für Sie. Die Pathologie.«
Thayer nahm den Hörer des Wandapparats ab. Kurz darauf legte er ihn wieder auf und wandte sich zu Claire. »Nun, was den Wurm betrifft, haben wir eine Antwort.«
»Sie haben ihn identifiziert?«
»Sie haben Fotos und mikroskopische Schnitte online nach Bangor geschickt. Ein Parasitologe am Eastern Maine Medical Center hat die Identifizierung gerade bestätigt. Es handelt sich nicht um Taenia. «
»Also ist es Ascaris? «
»Nein, der Wurm gehört zum Stamm der Annelida.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Das muß ein Irrtum sein. Sie haben ihn offensichtlich falsch bestimmt.«
Claire sah ihn fragend an. »Annelida ist mir im Moment kein Begriff. Was ist es?«
»Es ist ein ganz gewöhnlicher Regenwurm.«
23
Claire saß im Dunkeln in Noahs Krankenzimmer und hörte, wie ihr Sohn unermüdlich in seinem Bett hin und her ruckte. Seit der Rückenmarkspunktion am frühen Abend hatte er sich immer wieder gegen seine Fesseln gesträubt und sich schon zweimal den Infusionskatheter herausgerissen. Thayer hatte schließlich den Bitten der Schwestern nachgegeben und ihnen erlaubt, ein Beruhigungsmittel zu verabreichen. Doch auch nachdem er das Sedativum bekommen hatte und das Licht ausgeschaltet worden war, schlief er nicht ein; er schaukelte immer weiter hin und her und stieß Flüche aus. Es war aufreibend, diesen unentwegten Kampf auch nur mit anzuhören.
Kurz nach Mitternacht kam Lincoln ins Zimmer. Sie sah, wie die Tür sich öffnete und das Licht aus dem Flur hindurchfiel, und sie erkannte seine Gestalt, als er zögernd auf der Schwelle stehenblieb. Schließlich trat er ein und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber.
»Ich habe mit der Schwester gesprochen«, sagte er. »Sie sagt, es ist alles stabil.«
Stabil. Claire schüttelte den Kopf, als sie dieses Wort hörte. Es hieß nichts weiter als unverändert, ein konstanter Zustand, sei er nun gut oder schlecht. Man hätte auch Verzweiflung als eine stabile Verfassung bezeichnen können.
»Er scheint jetzt ruhiger zu sein«, meinte Lincoln.
»Sie haben ihn mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt. Das mußten sie auch, nach der Punktion.«
»Sind die Ergebnisse schon da?«
»Keine Meningitis. Keine Enzephalitis. In der Rückenmarksflüssigkeit ist nichts, was erklären
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