Trügerische Ruhe
Warren Emersons ruhige Augen sah, fühlte sie den Schauer. Sie schüttelte ihn ab und fuhr mit der Untersuchung fort.
»Ich muß mir Ihre Augen ansehen«, erklärte sie und griff nach dem Ophthalmoskop.
Er seufzte resigniert und erlaubte ihr, seine Netzhäute zu überprüfen.
»Waren Sie wegen Ihrer Anfälle schon einmal bei einem Neurologen? Bei einem Gehirnspezialisten?«
»Ganz früher war ich mal bei einem. Da war ich siebzehn.«
Sie richtete sich überrascht auf und schaltete die Lampe des Ophthalmoskops aus. »Das war vor fast fünfzig Jahren.«
»Er hat gesagt, ich hätte Epilepsie. Und daß ich sie für den Rest meines Lebens haben würde.«
»Sind Sie seither bei einem Neurologen gewesen?«
»Nein, Ma’am. Dr. Pomeroy, der hat sich um mich gekümmert, nachdem ich wieder nach Tranquility gezogen bin.«
Sie untersuchte ihn weiter, fand aber keine neurologischen Abnormitäten. Sein Herz und seine Lungen waren normal, und auch der Unterleib wies keine krankhaften Veränderungen auf.
»Hat Dr. Pomeroy mal Ihr Gehirn untersucht?«
»Er hat’s geröntgt, vor ein paar Jahren; da war ich gefallen und hatte mir den Kopf gestoßen. Er dachte, ich hätte mir vielleicht den Schädel angeknackst, hatte ich aber nicht. Hab wohl ’ne ziemlich harte Rübe.«
»Sind Sie in einem anderen Krankenhaus gewesen?«
»Nein, Ma’am. Bin fast mein ganzes Leben in Tranquility gewesen. Hatte nie ’nen Grund, woanders hinzugehen.« Er schien es zu bedauern. »Jetzt ist’s zu spät.«
»Wofür zu spät, Mr. Emerson?«
»Gott gibt uns keine zweite Chance.«
Sie hatte nichts Außergewöhnliches gefunden. Und doch war ihr nicht wohl bei dem Gedanken, ihn in sein leeres Haus zurückgehen zu lassen.
Und was er gesagt hatte, beunruhigte sie noch immer:
Ich bin jetzt bereit zu sterben.
»Mr. Emerson«, sagte sie, »ich möchte Sie über Nacht hierbehalten und ein paar Tests machen. Nur um sicherzustellen, daß es da nichts Neues gibt, das diese Anfälle verursacht.«
»Ich habe sie fast mein ganzes Leben gehabt.«
»Aber Sie sind seit Jahren nicht mehr gründlich untersucht worden. Ich möchte, daß Sie wieder Medikamente bekommen, und ich will ein paar Aufnahmen von Ihrem Gehirn machen. Wenn alles in Ordnung ist, lasse ich Sie morgen gehen.«
»Mona mag es nicht, wenn sie Hunger leiden muß.«
»Machen Sie sich keine Sorgen um Ihre Katze. Jetzt müssen Sie erst mal an sich selbst denken. Ihre eigene Gesundheit.«
»Hab sie seit gestern abend nicht mehr gefüttert. Sie wird ganz elendiglich miauen –«
»Ich sorge dafür, daß Ihre Katze ihr Futter bekommt, wenn Sie dafür hierbleiben. Wie wär’s damit?«
Er betrachtete sie einen Moment. Er mußte darüber nachdenken, ob er das Wohlergehen seiner besten und vielleicht einzigen Freundin einer Frau anvertrauen konnte, die er kaum kannte.
»Thunfisch«, sagte er schließlich. »Heute rechnet sie mit Thunfisch.«
Claire nickte. »Gut, also bekommt sie Thunfisch.«
Im Schwesternzimmer rief sie als erstes die Röntgenabteilung an. »Ich liefere einen Patienten namens Warren Emerson ein, und ich möchte eine CT von seinem Kopf anordnen.«
»Diagnose?«
»Epileptische Anfälle. Hirntumor muß ausgeschlossen werden.«
Sie war gerade dabei, Warrens Anamnese und Untersuchungsergebnisse einzutragen, als Adam DelRay in die Unfallstation geschlendert kam. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe gerade gesehen, wie sie Warren Emerson aus dem Aufzug gefahren haben«, sagte er zu einer Schwester. »Wer hat den denn bloß eingeliefert?«
Claire blickte auf; ihre Abneigung gegen ihn war stärker als je zuvor. »Ich war das«, sagte sie kühl. »Er hatte heute einen Anfall.«
Er schnaubte verächtlich. »Emerson hat seit Jahren Anfälle. Er ist ein lebenslanger Epileptiker.«
»Man kann jederzeit einen neuen Hirntumor entwickeln.«
»Na, wenn Sie den übernehmen, kriegen Sie aber einen Heiligenschein erster Klasse. Pomeroy hat sich die ganzen Jahre über ihn beschwert.«
»Weshalb?«
»Hat nie seine Pillen genommen. Deswegen hat er dauernd Anfälle. Und außerdem ist er über Medicaid versichert, also können Sie von Glück sagen, wenn Sie Geld zu sehen bekommen. Aber es gibt wahrscheinlich schlechtere Arten, unsere Steuergelder auszugeben, als dem alten Emerson das Frühstück ans Bett zu servieren.«
Er lachte und ging fort.
Sie drückte beim Unterschreiben so fest auf, daß die Spitze des Kugelschreibers fast das Papier aufschlitzte. All diese Tests, die sie
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