Trügerische Ruhe
Stimme.
Endlich gab jemand zur Antwort: »fünf, vielleicht zehn Minuten.«
»Ist ein Krankenwagen gerufen worden?« Allgemeines Kopfschütteln und Achselzucken.
»Es ist doch bloß der alte Warren«, sagte eine Frau, die Claire als die Kassiererin des Supermarkts erkannte. »Er hat noch nie einen Krankenwagen gebraucht.«
»Jetzt braucht er aber einen!« versetzte Claire. »Rufen Sie einen!«
»Die Krämpfe lassen schon nach«, meinte die Kassiererin. »In einer Minute ist es vorbei.«
Die Glieder des Mannes zuckten jetzt nur noch gelegentlich; das Gehirn feuerte die letzten Salven seines elektrischen Gewitters ab. Schließlich lag er schlaff da. Claire fühlte erneut seinen Puls und fand ihn immer noch stark und regelmäßig.
»Sehen Sie, er ist okay«, sagte die Kassiererin. »Er übersteht es immer ganz gut.«
»Er muß genäht werden. Und er braucht eine neurologische Untersuchung«, sagte Claire. »Wer ist sein Hausarzt?«
»Das war immer Pomeroy.«
»Nun, irgend jemand muß ihm doch jetzt die Medikamente gegen seine Anfälle verschreiben. Wie sieht seine Krankengeschichte aus? Weiß jemand etwas darüber?«
»Warum fragen Sie nicht Warren? Er wacht gerade auf.«
Sie blickte nach unten und sah, daß sich Warren Emersons Augen langsam öffneten. Obwohl all die Menschen um ihn herumstanden, blickte er starr zum Himmel auf.
»Mr. Emerson«, sagte sie. »Können Sie mich ansehen?«
Einen Moment lang reagierte er nicht; er schien von Staunen erfüllt, und seine Augen folgten einer langsam dahinziehenden Wolke direkt über ihren Köpfen.
»Warren?«
Endlich sah er sie an. Er runzelte die Stirn, als versuchte er angestrengt zu verstehen, warum diese fremde Frau auf ihn einredete.
»Ich hatte schon wieder einen«, murmelte er. »Nicht wahr?«
»Ich bin Dr. Elliot. Der Krankenwagen ist unterwegs; wir bringen Sie ins Krankenhaus.«
»Ich will nach Hause ...«
»Sie haben sich den Kopf aufgeschlagen und müssen genäht werden.«
»Aber meine Katze – meine Katze ist allein zu Hause.«
»Ihrer Katze wird schon nichts passieren. Wer ist Ihr Doktor, Warren?«
Er schien Mühe zu haben, sich zu erinnern. »Dr. Pomeroy.«
»Dr. Pomeroy ist verstorben. Wer ist jetzt Ihr Hausarzt?«
Er schüttelte den Kopf und schloß die Augen. »Ist egal. Spielt keine Rolle mehr.«
Claire hörte das Sirenengeheul des herannahenden Krankenwagens. Er kam am Bordstein zum Stehen, und zwei Rettungssanitäter sprangen heraus.
»Ach, ist ja nur Warren Emerson«, bemerkte einer von ihnen, als habe er jeden Tag mit diesem Patienten zu tun. »Hat er wieder einen Anfall?«
»Und eine ziemlich tiefe Kopfverletzung.«
»Okay, Warren, alter Bursche«, sagte der Sanitäter. »Sieht so aus, als würdest du eine Spazierfahrt machen.«
Als der Krankenwagen abgefahren war, kochte Claires aufgestaute Wut endlich über. Sie sah auf die festgefrorene Blutlache hinab. »Ich kann es einfach nicht fassen«, sagte sie. »Hat denn niemand versucht, ihm zu helfen? Schert sich vielleicht irgendwer einen Deut um diesen Mann?«
»Sie haben bloß Angst«, erklärte die Kassiererin.
Claire drehte sich um und sah die Frau an. »Sie hätten ja wenigstens seinen Kopf schützen können. Ein epileptischer Anfall ist nichts, wovor man Angst haben müßte.«
»Davor haben wir auch keine Angst. Sondern vor ihm. «
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie fürchten sich vor einem alten Mann? Was kann denn an ihm so bedrohlich sein?«
Wieder war Schweigen die Antwort. Claire sah in die Gesichter der anderen, doch niemand erwiderte ihren Blick.
Niemand sagte ein Wort.
Als Claire im Krankenhaus ankam, hatte der Unfallarzt Warren Emersons Kopfwunde schon vernäht und war dabei, auf einem Klemmbrett Notizen zu machen. »Hat acht Stiche gebraucht«, meinte McNally.
»Und er hatte leichte Erfrierungen an Nase und Ohren.
Muß eine ganze Weile in der Kälte gelegen haben.«
»Mindestens zwanzig Minuten«, sagte Claire. »Meinen Sie, daß er stationär aufgenommen werden muß?«
»Nun, die Anfälle sind ein chronisches Problem, und neurologisch scheint er in Ordnung zu sein. Allerdings hat er sich den Kopf angeschlagen. Ich kann nicht sagen, ob die Bewußtlosigkeit durch den Anfall oder durch den Schlag auf den Kopf verursacht wurde.«
»Hat er einen Hausarzt?«
»Im Moment nicht. Unseren Unterlagen zufolge ist er zuletzt 1989 ins Krankenhaus eingeliefert worden; die Überweisung kam damals von Dr. Pomeroy.« McNally unterschrieb den Bericht und
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