Trügerische Ruhe
davon?«
»Die Leute, die damals hier waren. Die Älteren, die jetzt in den Sechzigern und Siebzigern sind. Aber nicht ihre Kinder. Nicht meine Generation.«
Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Sie haben es all die Jahre geheimgehalten?«
»Sie wissen doch, weshalb, oder? Es ist nicht nur die Stadt, die sie damit schützen. Es sind ihre Familien. Die Jugendlichen, die diese Verbrechen begangen haben, kamen alle aus der Gegend. Ihre Familien leben immer noch hier, und vielleicht schämen sie sich noch immer. Leiden immer noch unter den Folgen.«
»Wie Warren Emerson.«
»Genau. Sehen Sie sich doch an, was er für ein Leben gehabt hat. Er wohnt allein und hat keine Freunde. Er hat nie ein weiteres Verbrechen begangen, und doch wird er von allen gemieden. Selbst die Kinder gehen ihm aus dem Weg, obwohl sie keine Ahnung haben, weshalb. Sie wissen nur von ihren Großeltern, daß Warren Emerson ein Mann ist, von dem man sich fernhalten sollte.« Er sah auf den fotokopierten Artikel hinab. »Das ist also die Vorgeschichte Ihres Patienten. Warren Emerson ist ein Mörder. Aber er war nicht der einzige.«
»Sie müssen die Parallelen gesehen haben, Lincoln.«
»Gut, ich gebe zu, daß es welche gibt.«
»Zu viele, als daß man sie aufzählen könnte.« Sie nahm die kopierten Artikel und blätterte die Oktobernummer durch.
»1946 begann es mit Schlägereien in den Schulen. Zwei Jugendliche wurden von der Schule verwiesen. Dann wurden in der Stadt Fensterscheiben eingeschlagen, Häuser verwüstet – wieder gab man Jugendlichen die Schuld. In der letzten Oktoberwoche schließlich erschlägt ein Fünfzehnjähriger seine Eltern mit der Axt. Seine jüngere Schwester stößt ihn in Notwehr aus dem Fenster.« Sie sah ihn an. »Von da an wird es nur noch schlimmer. Wie erklären Sie sich das?«
»Wenn Gewalttaten geschehen, ist es eine ganz menschliche Reaktion, nach den Ursachen zu fragen. Aber die Wahrheit ist, daß wir nicht immer wissen, warum Menschen einander umbringen.«
»Sehen Sie sich die Abfolge der Ereignisse an. Das letzte Mal fing alles mit einer ruhigen, friedlichen Stadt an. Dann benahmen sich hier und da ein paar Jugendliche daneben. Verletzten einander. Wenige Wochen später bringen sie schon andere Leute um. Die Stadt ist in Aufruhr, jeder verlangt, daß etwas geschieht. Und plötzlich, wie durch Zauberei – hört es ganz einfach auf. Und die Stadt fällt wieder in Tiefschlaf.« Sie schwieg und senkte den Blick, sah wieder die Schlagzeile an. »Lincoln, an der Sache ist noch etwas anderes merkwürdig. In der Großstadt ist der Sommer die gefährlichste Jahreszeit, wenn die Hitze die Gemüter zum Überkochen bringt. Wenn es kalt wird, gehen die Kriminalstatistiken regelmäßig in den Keller. Aber in dieser Stadt ist es anders. Die Gewalt beginnt im Oktober und erreicht im November ihren Höhepunkt.« Sie blickte zu ihm auf. »In beiden Fällen hat das Morden im Herbst angefangen.«
Das Piepsen des Pagers in ihrer Tasche schreckte sie auf. Sie warf einen Blick auf die angezeigte Nummer und griff nach Lincolns Telefon.
Ein CT-Techniker nahm ihren Anruf entgegen. »Wir haben gerade den Scan vom Gehirn Ihres Patienten Warren Emerson abgeschlossen. Dr. Chapman ist unterwegs, um ihn sich anzusehen.«
»Können Sie irgend etwas erkennen?«
»Er ist definitiv abnormal.«
Dr. Chapman klemmte die CT-Aufnahmen an den Röntgenfilmbetrachter und schaltete die Beleuchtung ein. Die Querschnitte von Warren Emersons Gehirn wurden sichtbar. »Das ist es, was ich meine«, sagte er. »Genau hier. Es erstreckt sich in den linken Stirnlappen. Sehen Sie es?«
Claire trat näher. Was er ihr gezeigt hatte, war eine kleine, kugelförmige Verdichtung im vorderen Bereich des Gehirns, gleich hinter der Augenbraue. Sie schien fest zu sein, nicht zystisch. Sie warf einen Blick auf die anderen Schnitte, sah aber keine weiteren Verdichtungen. Wenn dies ein Tumor war, so schien er begrenzt zu sein. »Was denken Sie?« fragte sie. »Ein Meningiom?«
Er nickte. »Sehr wahrscheinlich. Sehen Sie, wie glatt die Ränder sind? Natürlich werden Sie eine Gewebsprobe brauchen, um festzustellen, ob es gutartig ist. Es hat einen Durchmesser von etwa zwei Zentimetern und scheint dick eingekapselt zu sein. Umschlossen von Fasergewebe. Ich nehme an, es kann restlos entfernt werden.«
»Könnte das die Ursache für seine Anfälle sein?«
»Seit wann hat er sie?«
»Seit seinem siebzehnten oder achtzehnten Lebensjahr. Das heißt, an die
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