Trügerische Ruhe
Fach für 1946, Juli bis Dezember. Es enthielt sechs Ausgaben der Gazette, die damals noch monatlich erschienen war. Die Seiten waren spröde und vergilbt, und die Anzeigen waren mit Abbildungen von Frauen mit Wespentaillen geschmückt, die Glockenröcke und kecke kleine Hütchen trugen. Vorsichtig blätterte sie die Julinummer durch und überflog die Schlagzeilen: REKORDHITZE ENTSCHÄDIGT FÜR VERREGNETEN FRÜHLING ... NOCH NIE SO VIELE SOMMERTOURISTEN ... MOSKITOALARM ... JUNGE MIT ILLEGALEN FEUERWERKSKÖRPERN ERWISCHT ... REKORDBESUCH BEI PARADE ZUM 4. JULI. Die Schlagzeilen im Juli sind doch immer die gleichen, dachte sie. Der Sommer war schon immer die Jahreszeit der Paraden und der Stechmücken gewesen, und diese Überschriften riefen Erinnerungen an ihren ersten Sommer in Maine wach. Der Geschmack knuspriger Maiskolben und grüner Erbsen, der Duft von Zitronellenöl auf ihrer Haut. Es war ein guter Sommer gewesen, genau wie der von 1946.
Sie wandte sich den August- und Septembernummern zu, wo sie noch mehr Artikel dieser Art fand; Berichte von Fischessen und Gemeindefesten und Schwimmwettbewerben im See. Es gab auch unerfreuliche Nachrichten: Drei Autos waren in einen Unfall verwickelt gewesen, und zwei Touristen waren ins Krankenhaus eingeliefert worden; ein Haus war infolge eines Mißgeschicks beim Kochen niedergebrannt. Ladendiebe hatten die Geschäfte der Gegend heimgesucht. Das Leben im Ferienland war nicht perfekt.
Sie nahm sich die Oktoberausgabe vor, und ihr Blick wurde von einer fetten Schlagzeile gefesselt: FÜNFZEHNJÄHRIGER TÖTET ELTERN UND STÜRZT ANSCHLIESSEND ZU TODE. JÜNGERE SCHWESTER HANDELTE »EINDEUTIG IN NOTWEHR«. Der Name des Jugendlichen war nicht genannt, aber die Fotos der ermordeten Eltern waren abgedruckt – ein hübsches, dunkelhaariges Paar, lächelnd und im Sonntagsstaat. Sie las die Bildunterschrift, die das getötete Ehepaar identifizierte: Martha und Frank Keating. Der Nachname kam Claire bekannt vor; sie wußte von einer hiesigen Richterin namens Iris Keating. War sie mit den Ermordeten verwandt?
Ihr Blick fiel auf eine Schlagzeile weiter unten auf der Seite: SCHLÄGEREI IN HIGH-SCHOOL-CAFETERIA.
Und noch eine: BESUCHERIN AUS BOSTON VERMISST. MÄDCHEN WURDE ZULETZT MIT HIESIGEN JUGENDLICHEN GESEHEN.
Der Kellerraum war nicht geheizt, und ihre Hände fühlten sich wie Eis an. Doch die Kälte kam von innen.
Sie griff nach der Novembernummer und starrte die Titelseite an. Die Schlagzeile schrie ihr ins Gesicht: VIERZEHNJÄHRIGER WEGEN MORDES AN ELTERN FESTGENOMMEN: FREUNDE UND NACHBARN SCHOCKIERT ÜBER VERBRECHEN DES »SENSIBLEN KINDES«.
Der kalte Schauer hatte ihren ganzen Rücken erfaßt. Sie dachte: Es geht alles wieder von vorne los.
14
»Warum haben Sie mir nichts davon gesagt? Warum haben Sie es geheimgehalten?«
Lincoln ging zur Tür seines Büros und schloß sie. Dann wandte er sich zu Claire. »Es ist lange her. Ich habe keinen Sinn darin gesehen, alte Geschichten auszugraben.«
»Aber es geht um die Geschichte dieser Stadt! Nach allem, was im vergangenen Monat geschehen ist, scheint mir das hier durchaus bedeutsam.«
Sie legte die fotokopierten Artikel aus der Tranquility Gazette auf seinen Schreibtisch. »Sehen Sie sich das an. Im Jahr 1946 wurden sieben Menschen ermordet, und ein Mädchen aus Boston wurde nie gefunden. Gewalt ist ganz offensichtlich nichts Neues für diese Stadt.« Sie tippte auf den Stapel von Papieren. »Lesen Sie die Artikel, Lincoln. Oder kennen Sie die Einzelheiten vielleicht schon?«
Er ließ sich langsam auf seinen Stuhl nieder, den Blick auf die Fotokopien gerichtet. »Ja, ich kenne die meisten Einzelheiten«, sagte er leise. »Ich habe die Geschichten gehört.«
»Wer hat sie Ihnen erzählt?«
»Jeff Willard. Er war der Polizeichef, als ich vor zweiundzwanzig Jahren hier anfing.«
»Und vorher hatten Sie nichts davon gewußt?«
»Nein. Und ich bin hier aufgewachsen. Ich wußte von nichts, bis Chief Willard mir alles erzählte. Die Leute reden einfach nicht darüber.«
»Sie tun lieber so, als sei es nie geschehen.«
»Wir müssen auch an unseren Ruf denken.« Er sah auf und erwiderte endlich ihren Blick. »Dies ist ein Ferienort, Claire. Die Menschen kommen hierher, um der Großstadt und dem Verbrechen zu entfliehen. Wir sind nicht sehr erpicht darauf, daß alle Welt von unseren eigenen Problemen erfährt. Von unserer eigenen Mordserie.«
Sie setzte sich ebenfalls und sah ihm direkt in die Augen.
»Wer weiß
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