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Trügerische Ruhe

Trügerische Ruhe

Titel: Trügerische Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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sah Claire an. »Möchten Sie ihn übernehmen?«
    »Das wollte ich gerade vorschlagen«, sagte sie.
    McNally reichte ihr Emersons alte Krankenhausakte. »Viel Spaß beim Lesen.« Die Akte enthielt sowohl die Dokumentation über Emersons Krankenhausaufenthalt von 1989 als auch Aufzeichnungen über zahlreiche Notaufnahmen in den vergangenen Jahren. Sie wandte sich zuerst dem Bericht über die Einlieferung aus dem Jahr 1989 zu und erkannte sogleich Dr.Pomeroys krakelige Handschrift. Es war eine dürftige Eintragung, die nur die wesentlichen Fakten enthielt:
    Anamnese: 57jähriger Weißer; hat sich vor fünf Tagen beim Holzhacken mit der Axt in linken Fuß geschnitten. Wunde angeschwollen und schmerzhaft, Patient kann den Fuß nicht mehr belasten.
    Befund: Temperatur 37,2. Fünf Zentimeter lange Schnittwunde am linken Fuß, Wundränder glatt. Umgebende Haut warm, gerötet und empfindlich. Vergrößerter Lymphknoten in linker Leiste.
    Diagnose: Erysipel.
    Anordnung: IV-Antibiose.
    Es gab weder Angaben zur Vorgeschichte des Patienten noch zu seinen sozialen Verhältnissen; nichts, was darauf hingewiesen hätte, daß zu dem infizierten Fuß ein lebendiges, atmendes menschliches Wesen gehörte.
    Sie blätterte weiter zu den Notaufnahmeberichten.
    Es gab insgesamt fünfundzwanzig Blätter, eines für jede der fünfundzwanzig Einlieferungen in den vergangenen dreißig Jahren, und die Gründe waren immer die gleichen: »Chronische Epilepsie mit Anfall ...«
    »Anfall, Kopfverletzung ...«
    »Anfall, Schnittwunde im Gesicht ...« Anfall, Anfall, Anfall.
    Jedesmal hatte Dr. Pomeroy ihn einfach entlassen, ohne jede weitere Untersuchung. Nirgendwo konnte sie einen Hinweis auf eine Überprüfung der ursprünglichen Diagnose finden.
    Pomeroy war vielleicht bei seinen Patienten sehr beliebt gewesen, aber in diesem Fall hatte er es eindeutig an Sorgfalt fehlen lassen.
    Sie betrat das Untersuchungszimmer.
    Warren Emerson lag auf dem Rücken auf dem Behandlungstisch. Umgeben von all den glitzernden Apparaturen wirkten seine Kleider noch schäbiger und abgerissener. Eine große Stelle auf seinem Kopf war kahlrasiert, und die frischgenähte Wunde war mit Gaze verbunden. Er hörte Claire eintreten und drehte langsam den Kopf zu ihr hin. Er schien sie wiederzuerkennen; ein schwaches Lächeln formte sich auf seinen Lippen.
    »Mr. Emerson«, sagte sie. »Ich bin Dr. Elliot.«
    »Sie sind dagewesen.«
    »Ja, als Sie den Anfall hatten.«
    »Ich wollte Ihnen danken.«
    »Wofür?«
    »Ich mag es nicht, wenn ich alleine aufwache. Ich mag es nicht, wenn ...« Er verstummte und blickte zur Decke. »Kann ich jetzt nach Hause?«
    »Darüber müssen wir uns unterhalten. Seit Dr. Pomeroys Tod hat sich niemand mehr um Sie gekümmert. Möchten Sie, daß ich Ihre Hausärztin werde?«
    »Hab eigentlich keinen Doktor mehr nötig. Gibt nichts, was irgendwer für mich tun könnte.«
    Lächelnd drückte sie seine Schulter. Er war wie vergraben, mumifiziert unter all den Lagen von muffigem Stoff. »Ich glaube, ich kann Ihnen helfen. Als erstes müssen wir diese Anfälle in den Griff kriegen. Wie oft haben Sie die?«
    »Weiß nicht. Manchmal wache ich auf dem Fußboden auf, und dann denk ich mir, daß es wieder mal passiert ist.«
    »Und da ist sonst niemand im Haus? Sie leben allein?«
    »Ja, Ma’am.« Er sah sie mit dem Anflug eines Lächelns an.
    »Das heißt, abgesehen von Mona, meiner Katze.«
    »Wie oft glauben Sie, daß Sie die Anfälle bekommen?«
    Er zögerte. »Ein paarmal im Monat.«
    »Und welche Medikamente nehmen Sie?«
    »Die hab ich schon vor Jahren aufgegeben. Haben mir nichts genützt, all die Pillen.«
    Sie stieß einen frustrierten Seufzer aus. »Mr. Emerson, Sie können Medikamente nicht einfach absetzen.«
    »Aber ich brauche sie nicht mehr. Ich bin jetzt bereit zu sterben.« Er sagte das ruhig, ohne Angst, ohne jede Spur von Selbstmitleid. Es war eine einfache Feststellung. Ich werde bald sterben, und daran ist nichts zu ändern.
    Sie hatte solche Voraussagen schon von anderen Patienten gehört. Wenn sie ins Krankenhaus eingeliefert wurden, war ihr Zustand alles andere als lebensbedrohlich, und doch sagten sie ruhig und voller Überzeugung zu Claire: »Diesmal gehe ich nicht wieder nach Hause.« Sie versuchte dann, die Patienten zu beruhigen, obwohl die Vorahnung des Todes sie schon wie ein Schauer überlief. Die Patienten selbst wissen offenbar immer Bescheid. Wenn sie sagen, daß sie sterben werden, dann sterben sie auch.
    Als sie in

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