Trügerischer Friede
seine Hände. »Bitte bleib bei mir.«
»Meine Erfahrung? Gerade als ich dabei war, ein eigenständiger Herrscher zu werden, wurde ich von meinen eigenen Kindern abgesetzt«, antwortete er bitter. »Ich habe in den Jahren meiner Regentschaft zu lange das getan, was Nesreca und Aljascha mir einflüsterten. Ich will nicht, dass es später heißt, ich wäre zu deinem Mortva geworden, Norina.« Lodrik beugte sich nach vorn, und es erinnerte in der Tat ein wenig an eine Spukgestalt, wie sein bleiches Gesicht aus der dunklen Ecke auftauchte. Er drückte ihre Finger, hob sie an seinen Mund und küsste sie sanft. »Ulsar zu verlassen heißt nicht, dass ich vollends weggehe. Ich erinnere mich sehr genau an mein Versprechen, und ich werde es auch halten. Es gibt außerhalb der Stadt den Stammsitz der Bardric, in dem mein Vater einst lebte und in dem ich meine Kindheit verbrachte.«
»Er wurde geplündert, nachdem sich Govans Tod herumgesprochen hatte«, erinnerte sie ihn. »Du wirst nicht mehr viel Heiles darin finden, er ist verlassen und schmucklos. Die Menschen haben ihrem Zorn freien Lauf gelassen.«
»Ich werde es mir schon gemütlich machen«, sagte er leichthin. In Wirklichkeit dachte er daran, wie gut dieses
Haus zu ihm passte: leer, kalt, tot. »Ich lasse dich wissen, was ich benötige, und du schickst es mir bitte. Außer dir möchte ich keinen Besuch sehen. Niemand wird erfahren, dass ich dort residiere. Kannst du mir das zusichern?«
»Von mir erfährt es niemand.« Norina spürte, dass es keinen Sinn hatte, ihn umstimmen zu wollen. Es würde für ihn mehr Folter als Freude sein, in der Hauptstadt zu leben. »Mir wirst du nicht verbieten können, dich zu besuchen, und auch Krutor wird es sich gewiss nicht nehmen lassen, seinen Vater zu sehen.«
»Ihr seid beide jederzeit willkommen.« Lodrik stand auf, zog Norina zu sich in den Schatten. Sie bildete sich ein, dass es kühler um sie herum wurde, als er die Arme um sie legte und sie an sich drückte - gerade so, als verlöre sie die eigene Körperwärme an ihn. Sie fröstelte, Gänsehaut kroch über ihre Arme, und dennoch verharrte sie bei ihm.
»Ich reise noch in der Nacht ab.« Er hatte den Schauder bemerkt, ließ sie los und schob sie lächelnd in die Sonnenstrahlen. »Sollte dich jemand fragen, wo ich geblieben bin, sage ihm, dass ich durch Tarpol reite und in deinem Namen nach Unrecht Ausschau halte.« Er schritt langsam zur Tür. »Es wird sich herumsprechen und manchen Hara keiner bei sich im Haus haben möchte.« Lodrik verließ dass Teezimmer. Mit ihm wich die Bedrückung. Die Farben der Teppiche leuchteten intensiv auf, der abgestandene Geruch schwand, machte dem Sommerduft Platz; das ganze Zimmer schien freundlicher und heller, seit der einstige Kabcar gegangen
war.
Norina riss die Vorhänge zur Seite und öffnete die großen Fenster, ließ Luft und Licht vollends hereinströmen. Sie legte beide Arme um den Leib, hob den Kopf, schloss die Augen und ließ sich von den Sonnen die schreckliche Kühle aus
dem Körper brennen.
Sie würde Perdor schreiben, ihm die Veränderung ihres Mannes schildern und ihn bitten, Soschas Bemühungen um die Erforschung der Magie doppelt zu unterstützen. Es musste irgendein Mittel existieren, um ihm seine alte Lebensfreude zurückzugeben. Notfalls würde sie Dekaden warten, um den Lodrik in den Armen zu halten, den sie kannte und den sie sich ersehnte. Für ihre Liebe zu Lodrik nähme sie alles in Kauf. Sie hatte ihn schon einmal in ihrem Leben verloren und würde es keinem Menschen und keiner Macht auf dem Kontinent -mochte diese Macht noch so bedeutend sein - ein zweites Mal erlauben, ihr den Mann zu nehmen, für den ihr Herz schlug. Norina atmete die reine Luft tief ein, gab sich einen Ruck, nahm die Unterlagen und kehrte ins Arbeitszimmer zurück, um die verschiedenen Gesetzestexte durchzugehen, welche sie den Adligen und Brojaken vorlegen würde. Aufmerksam blätterte sie die Beschlüsse durch, die unmittelbar nach ihrer Inthronisierung in Kraft treten sollten, versah sie mit Korrekturen, Anmerkungen und Verbesserungen. Nach vier Stunden Arbeit am Schreibtisch erhob sich Norina müde, um sich etwas zu essen zu machen. Wieder musste sie an ihren Vater denken. Er wäre stolz auf Lodrik und sie. Kontinent Ulldart, Südwestküste von Türis, Sommer im Jahr 1 Ulldrael des Gerechten (460
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