Trügerisches Bild: Ein Auftrag für Spenser
hatten wir, dass wir uns liebten. Alles andere nicht. Sie war im Fühlen und im Denken stark, tendierte aber mehr zum Denken. Bei mir verhielt es sich wahrscheinlich genau andersherum.
„Wenn man ein kleines bisschen unsicher ist“, hatte sie einmal gesagt, „dann neigt man dazu, sehr sorgfältig vorauszudenken.“
„Und wenn nicht?“, hatte ich gefragt.
„Dann neigt man dazu, auf seine Gefühle zu vertrauen und einfach loszumachen, weil man davon ausgeht, dass man mit den Resultaten schon klarkommen wird, egal wie sie ausfallen.“
„Eine gewisse Ausgewogenheit wäre schön“, hatte ich gesagt.
„Auf jeden Fall. Und selten wäre sie auch.“
Ich grinste. Woher rührte diese versteckte Unsicherheit? Ihre erste Ehe war eine Katastrophe gewesen. Aber diese Ehe war wohl eher Ausdruck der Unsicherheit, nicht die Ursache. Die Ursache war wahrscheinlich in Swampscott zu finden, in der Familiendynamik der Hirschs. Wie auch immer, das war damals, und wir waren jetzt, und zum Teufel damit.
Unten kam ein Mann mit einem lebhaften Scottie an der Leine um die Ecke Arlington Street gebogen. Spät für einen Spaziergang mit dem Hund. Vielleicht hielt das Tier sonst die Nacht nicht durch.
Mein Glas war leer. Ich ging in die Küche, holte mehr Eis, goss mir noch etwas Whiskey ein und setzte mich im Wohnzimmer an den kalten Kamin in meinen Sessel und nahm einen kleinen Schluck. Er glitt meine Kapillaren hinunter und floss angenehm meine Nervengeflechte entlang. Ich habe mehr vom Whiskey bekommen, als er mir genommen hat.
Auch hier, um Princes Tod herum, gab es irgendein Geflecht.
Es war noch nicht deutlich sichtbar, aber da zeichnete sich irgendetwas ab, das ich noch nicht ganz durchschaute. Es hatte mit dem Holocaust zu tun, mit dem Jüdischsein, mit Holland und mit Kunst. Aber wenn ich vielleicht auch einige Bestandteile kannte, die Absicht durchschaute ich noch nicht, nur dass sie von einer Finsternis sein mochte, die zum Erbleichen war. Das war ich gewöhnt. Ich hatte einen Großteil meines Lebens damit zugebracht, mich an finsteren Orten umzusehen, die zum Erbleichen waren. Aber merkwürdigerweise war ich nie wirklich erbleicht. Ich sah mir an, was ich mir ansehen musste, um das zu tun, was ich tat. Und was es gab, das gab es eben. Über das Warum spekulierte ich kaum; dafür tat ich das schon zu lange. Wenn nötig, konnte ich meine emotionale Reaktion bis auf null runterfahren. Ich machte meine Arbeit gern, wahrscheinlich weil ich gut darin war. Und manchmal gewann ich. Manchmal erschlug ich den Drachen und galoppierte mit der Jungfer davon. Manchmal nicht. Manchmal überlebte der Drache. Manchmal verlor ich die Jungfer. Aber bis jetzt hatte nie der Drache mich erschlagen … und ich war nie endgültig erbleicht. Und ich war mit Susan zusammen.
Ich schmunzelte und gratulierte mir mit einem leichten Heben des Whiskeyglases.
„Manchmal allein“, sagte ich zu niemandem. „Aber nie einsam.“
Ich feierte diese bedeutsame Tatsache in zufriedener Finsternis, bis mein Glas leer war.
Dann ging ich ins Bett.
30
Am Morgen hielt ich auf dem Weg ins Büro bei der Boston Public Library an und lieh mir Ästhetik und Habgier im Zweiten Großen Krieg aus; dann besorgte ich zwei große Kaffee und einen Weizenvollkorn-Bagel und setzte mich an meinen Schreibtisch.
Ich trank meinen Kaffee und aß meinen Bagel, der ziemlich gut war, und las in Princes Buch hinein, das nicht besonders gut war. Er war Akademiker. Er benutzte kein kurzes Wort, wenn ein langes es auch annähernd so gut ausdrückte. Sein Prosastil war so prätentiös, dass man nie genau wusste, was er meinte. Nach der ersten Seite merkte ich, wie mein Kopf wegnickte. Ich kämpfte mich durch das erste Kapitel, wobei mich mein Kaffee und mein Bagel trösteten, und brach ab. So versessen war ich nun auch nicht darauf, seine Ermordung aufzuklären, dass ich mehr als ein Kapitel auf einmal las. In Kapitel 1 erfuhr ich, dass Deutschland 1940 in die Niederlande eingefallen war.
Ich konnte kaum erwarten, in Kapitel 2 herauszufinden, wer gewonnen hatte.
Ich checkte den Umfang des Buches und die ungefähre Länge der Kapitel und beschloss einstimmig, dass ich jeden Tag ein Kapitel lesen würde. Mehr als das, und ich würde sowieso nicht mehr wissen, was ich gerade gelesen hatte.
Es war zehn. Ich hatte ein Kapitel gelesen, einen Bagel gegessen und zwei guatemaltekische Kaffee getrunken, und der Tag erstreckte sich vor mir wie eine leere Straße. Ich hielt mich an
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