Trümmermörder
sie kriecht, sie hebt die Hände, sie schließt die Augen, sie verzieht schmerzverzerrt das Gesicht, sie rennt.
Stave versteht kein Wort – aber die Bewegungen des Mädchens verraten ihm genug. Noch bevor Thérèse DuBois endlich mit ihrer Übersetzung beginnen kann, weiß er, dass sie ihm von einem Massaker erzählen wird.
»Anouk ist Jüdin. Sie lebte mit ihren Angehörigen in einem kleinen Ort nordwestlich von Limoges«, erklärt die Betreuerin. »Deshalb waren sie besonders vorsichtig während der deutschen Besatzungszeit. Vorsichtiger als ihre Nachbarn. Im Sommer ’44 kamen Soldaten in das Dorf, da sind sie sofort in einem Keller verschwunden. Die meisten Bewohner jedoch haben sich nicht versteckt.«
»Welche Soldaten?«
»Deutsche. Waffen-SS. Die Invasion in der Normandie hatte vier Tage zuvor stattgefunden. Die Soldaten waren auf dem Weg zur Front. Die Franzosen dachten, dass die deutsche Herrschaft bald vorüber sei. Die Résistance verübte viele Anschläge. Und die SS-Männer rächten sich, an diesem Tag, an diesem Ort.«
Stave schweigt, wartet darauf, dass sie weitererzählt.
»Sie zerrten alle Männer und halbwüchsigen Jungen in Garagen oder Scheunen und erschossen sie. Die Frauen und Kinder trieben sie in die Kirche. Dann zündeten sie das Gotteshaus an, warfen Handgranaten hinein und feuerten. Am Ende waren praktisch alle Einwohner tot, mehr als sechshundert Menschen. Ein Drittel von ihnen Kinder.
Auch Anouks Eltern wurden entdeckt und erschossen. Sie jedoch überlebte, zusammengekauert hinter einem Regal mit Werkzeug und Holz. Die SS-Männer übersahen sie. Dann schlich sie an ein Kellerfenster, blickte hinaus und sah alles mit an. Nach dem Massaker zündeten die Mörder die Häuser des Dorfes an. Als es in ihrem Keller unerträglich heiß wurde, floh die Kleine. Niemand hat sie entdeckt, bis sie am nächsten Tag einem Kommando der Résistance in die Arme lief. Ihre Rettung. Nur eine Handvoll weiterer Einwohner überlebte.«
Stave blickt das Mädchen ernst an und sagt langsam: »Und der Mann, mit dem ich neulich bei euch war, gehörte an jenem Tag zu den Soldaten?«
Die Betreuerin übersetzt. Die Kleine nickt. Dann wieder eine Wortkaskade und Gesten: Tritte, Finger am Abzug.
»Er gehörte zu dem Trupp, der ihre Eltern aus dem Keller zerrte. Und später sah sie ihn, wie er in die brennende Kirche schoss. Er lachte dabei.«
Stave schließt die Augen und versucht sich Maschke vorzustellen: ein schlaksiger junger Mann in schwarzer Uniform mit der Schirmmütze, auf der ein Totenkopf prangt. Oder wahrscheinlicher mit einem Helm, rauchend sicherlich, lachend.
»Wie hieß dieser Ort?«, fragt er schließlich.
»Oradour-sur-Glane.«
»Wann war das Massaker?«
»Am 10. Juni 1944.«
Stave zieht die Frankreichkarte hervor, die er aus Maschkes Schreibtisch hat mitgehen lassen, und breitet sie auf dem Fußboden aus. Das Mädchen starrt ihn schweigend an.
»Können Sie mir den Ort auf der Karte zeigen?«
Die Betreuerin sucht, deutet dann auf einen Punkt fast in der Mitte des Landes.
Der Oberinspektor beugt sich über die Karte. Exakt an dem Punkt ist mit Bleistift ein Datum eingetragen: »10. Jun. ’44.«
Auf dem Rückweg fährt Stave ungewöhnlich langsam. Lothar Maschke ist eigentlich Hans Herthge, kein U-Boot-Fahrer, sondern ehemaliger Soldat der Waffen-SS. Ein Mörder, mitverantwortlich für den Tod von mehr als sechshundert Menschen.
Und wir regen uns über vier Leichen auf, denkt er, aber ermahnt sich dann: Zu Recht regen wir uns auf. Mord ist Mord.
Was soll er unternehmen? Er hat die Aussage einer Achtjährigen. Thérèse DuBois versprach ihm, dass die Kleine vor Gericht als Zeugin auftreten würde. Sie sagte das in einem Ton, als erwarte sie, dass Stave sofort zum Staatsanwalt gehen würde. Doch was könnte Ehrlich tun? Bei einem Schuldspruch würde Maschke/Herthge der Tod drohen. Aber reicht die Aussage einer Achtjährigen, um einen Polizeibeamten unter das Fallbeil zu bringen? Kann man überhaupt nachweisen, dass Maschke Herthge ist? Es gibt die Frankreichkarte, doch die hat Stave unter zweifelhaften Umständen aus dem Schreibtisch des Kollegen entwendet. Was würde ein geschickter Verteidiger daraus machen? Am Ende würde man Maschke aus Mangel an Beweisen freisprechen – und Stave wäre der Denunziant, das Kollegenschwein. Er würde seinen Hut nehmen können.
Ich muss mich mit Ehrlich beraten, denkt Stave. Vertraulich. Sehen, was man tun kann. Weitere Beweise sammeln. Dann
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