Trümmermörder
tritt er abrupt auf die Bremse, der Wagen kommt schleudernd zum Stehen.
Ehrlich wollte an jenem Abend in Maschkes Büro. Er hat ihm nicht gesagt, warum er den Beamten von der Sitte sehen wollte. Vielleicht wollte er ihn gar nicht sehen? Vielleicht wollte der Herr Staatsanwalt, ebenso wie der Herr Oberinspektor, im Schreibtisch des Polizisten schnüffeln – wenn auch aus anderen Gründen. Möglich, dass Ehrlich längst etwas von Maschkes dunkler Vergangenheit ahnt. Was sagte Thérèse DuBois? Dass Ehrlich sich immer neue Prozesse auflädt. Ein Rächer. Jemand, der mit den Nazis viele Rechnungen offen hat.
Stave starrt aus dem dreckverschmierten Glas der Windschutzscheibe. Ein Mann, der ein altes Fahrrad mit eierigen, blanken Felgen über den Gehsteig schiebt, blickt ihn misstrauisch an, geht dann aber schnell weiter. Der Oberinspektor achtet nicht weiter auf ihn. Wer spielt hier welches Spiel, denkt er. Kein Wunder, dass Maschke bei ihrem ersten Besuch im Kinderheim aus dem Haus ging. Kein Wunder, dass ihm die ganzen Ermittlungen in Sachen Displaced Persons nicht passen – muss er doch immer fürchten, dass ihn irgendein Versprengter wiedererkennt. Wer weiß, was der SS-Mann noch alles angestellt hat? Jeder Jude, jeder überlebende Flüchtling, jeder ehemalige Kriegsgefangene könnte ein Zeuge sein, der ihn auffliegen lässt. Kein Wunder, dass Maschke am liebsten rasch einen Schwarzhändler als Täter präsentiert hätte. Kein Wunder auch, dass er dafür Gewalt anwendet und den erstbesten Verdächtigen zusammenschlägt, um ein Geständnis zu erpressen.
Hat Maschke deswegen die Akten gestohlen? Steht da etwas drin, das einen Hinweis geben könnte auf die SS-Vergangenheit des Beamten? Aber was? Stave fröstelt und weiß, dass dies nicht vom kalten Sturm kommt, der um das Auto heult.
Dann wandern Staves Gedanken zum Staatsanwalt. Interessiert sich Ehrlich überhaupt für den Trümmermörder? Oder nutzt er den Fall nur, um Maschke/Herthge, den er bereits verdächtigt, irgendwie in die Enge zu treiben? Hat der Staatsanwalt gar, wie er es auch bei Maschke versuchte, Staves Büro einen nächtlichen Besuch abgestattet? Und hat Ehrlich die Akten mitgehen lassen? Und wieder: Stave will kein Vorfall einfallen, der diesen Verdacht erhärten würde, kein auffälliges Verhalten, kein Motiv.
Stave hatte Thérèse DuBois beim Abschied erklärt, dass die Aussage der Achtjährigen allein seiner Meinung nach nicht zu einer Verurteilung von Maschke führen würde. Sie hatte taurig gelächelt.
»Es ist leichter, sechshundert Menschen an einem Tag zu massakrieren, als einen Mörder vor Gericht zu stellen«, hatte sie gesagt.
»Er wird vor Gericht landen, das verspreche ich«, hatte Stave geantwortet. »Ich werde weitere Beweise finden.«
Nun fragt er sich, ob er dieses Versprechen halten kann.
In der Zentrale schleppt er sich müde den Flur Richtung Büro hinunter. Er ignoriert seinen Hunger, das Ziehen im Bein. Erna Berg legt gerade den Hörer auf die Gabel, als er eintritt.
»MacDonald?«
»Hat sich gemeldet. Er ist auf dem Weg zu Ihnen.«
»Sonst noch Neuigkeiten?«
»Nein. Keine Anrufe. Keine Besucher.«
»Keine neue Leiche.«
Erna Berg lächelt verlegen. »Darf ich mir den Nachmittag freinehmen? Ich würde mich gerne untersuchen lassen. Beim Frauenarzt.«
Stave starrt sie an. Frauenarzt – oder Engelmacherin? Was geht das mich an, denkt er dann und nickt. »Gehen Sie nur. Sieht nicht so aus, als gäbe es heute noch viel zu tun.« Er zögert kurz. »Viel Glück«, setzt er noch hinzu, doch so leise, dass Erna Berg ihn nicht hört.
Als seine Sekretärin gegangen ist, klemmt er sich eine halbe Stunde lang ans Telefon, ruft Hotels und Polizeiwachen an der Ostseeküste an – Maschke ist nicht aufzutreiben. Der wird bei irgendeinem Arzt sein, vermutet der Oberinspektor.
Ob er sich Maschkes Personalakte bringen lassen soll? Vielleicht findet er dort ein Indiz, das auf den Identitätswechsel hinweist. Ein gefälschtes Dokument, ein Widerspruch im Lebenslauf. Aber was soll er den Kollegen von der Personalabteilung als Vorwand sagen? Dass ihm ein alter Freund vertraulich etwas steckt, ist das eine. Aber gleich die ganze Akte aushändigen? Die bleibt am Platz. Es hilft nichts – Stave wird mit dem Staatsanwalt reden müssen. Ehrlich wird eher an die Personalakten kommen als er.
Trotzdem ist Stave zufrieden. Ich bin weitergekommen, denkt er, ich muss nur auf eigene Faust handeln. Maschke ist Herthge, das ist doch
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