Trümmermörder
Seit acht Monaten trennt uns bloß eine zerschlissene Wolldecke. Wir frieren und hungern gemeinsam. Und doch würde Johann Schwarzhuber mich ohne zu zögern sterben lassen. Und die beiden Familien mit kleinen Kindern, die ebenfalls in unserer Nissenhütte leben, auch. Und jeden anderen Menschen auf dieser Erde. Er würde niemandem helfen, nur sich selbst.
Hamburg ist voller Johann Schwarzhubers, Tausende streichen durch die Ruinen, lauern in den Baracken, starren aus vereisten Fensterscheiben. Ich wette, dass da mancher die vier Toten kennt und sich denkt: Soll sich doch ein anderer den Ärger machen und zur Polizei gehen!«
»Mag sein, dass in Hamburg viele Johann Schwarzhubers leben«, erwidert der Oberinspektor. »Doch nicht alle Hamburger sind Johann Schwarzhubers. Wenn Sie auf diesem Spaziergang verschwinden, dann würde er Sie vielleicht nicht als vermisst melden, aber irgendjemand anders schon.«
Anna von Veckinhausen blickt ihn lange an, schüttelt schließlich mit einem müden Lächeln den Kopf. »Da täuschen Sie sich«, murmelt sie, dann verklingt ihre Stimme und sie starrt auf das Eis des Baches.
»Dann habe ich Glück gehabt, dass wenigstens Sie den Ärger auf sich genommen haben und zur Polizei gegangen sind«, sagt Stave. Niemand, der Anna von Veckinhausen als vermisst melden würde, denkt er. Wie traurig – und doch jubiliert irgendetwas tief in ihm: kein Ehemann.
Dann fällt ihm plötzlich etwas ein. Er zieht ein Foto aus seiner Manteltasche, das Bild des Ohrgehänges der vierten Toten. »Sie sind Expertin für Schmuck und Kunst. Haben Sie das schon einmal gesehen?«
Anna von Veckinhausen nimmt das Foto vorsichtig in ihre Hand, als wäre es selbst ein Schmuckstück. »René Lalique«, sagt sie, nachdem sie nur wenige Augenblicke das Bild studiert hat.
Stave starrt sie an. »Wer ist das?«
Sie lächelt nachsichtig. »Ein Juwelier, dessen Kreationen sich ein Polizeibeamter nicht leisten kann. Art nouveau. René Lalique war ein Pariser Schmuckkünstler. Objekte dieser Art fertigte er von etwa 1890 bis 1914. Hat das etwas mit Ihren Morden zu tun?«
Der Oberinspektor nimmt ihr das Foto wieder ab. »Wenn ich diesen Kerl jemals zur Strecke bringe, dann verdanke ich das nur Ihnen«, murmelt er. Dann berichtet er Anna von Veckinhausen, unter welchen Umständen er das Ohrgehänge gefunden hat.
»Wo verkaufte René Lalique seinen Schmuck?«
»Ausschließlich in Paris. Aber das Ohrgehänge ist ja fast schon eine Antiquität. Das mag durch mehrere Hände gegangen sein, bis das vierte Opfer es trug.«
»Die Trägerin war also möglicherweise in Frankreich – und wenn, dann vor dem Krieg. Und sie war wahrscheinlich reich.«
»Derjenige, der es ihr geschenkt hat, war reich.«
Stave denkt an die Medaillons. »Haben Seestern und Perle irgendeine religiöse Bedeutung? Als Zeichen einer Sekte oder dergleichen?«
Sie blickt ihn verblüfft an, überlegt lange, schüttelt den Kopf.
»Schade«, sagt der Oberinsepktor. »Es wäre zu schön gewesen, wenn Sie mir alle Arbeit abgenommen hätten.«
Anna von Veckinhausen lächelt wieder. Als sie vor der Nissenhütte angelangt sind, reicht sie ihm zum Abschied die Hand. Stave umschließt sie, hält sie eine Sekunde länger fest als nötig.
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie mal ein Bild haben wollen, das Sie im Büro an die kahle Wand hängen können.«
»Ich melde mich«, antwortet Stave. »Versprochen.«
Der Oberinspektor wandert gedankenverloren durch die Ruinen, erschöpft von den vielen Wegen, die er an diesem Tag schon zurückgelegt hat. Aber auch seltsam glücklich. Ich komme endlich wieder voran, sagt er sich, und auch: Da beginnt etwas mit Anna von Veckinhausen, ohne dass er sich selbst die Frage stellt, was er mit diesem »etwas« eigentlich meint.
Da er auf dem Weg zu seiner Wohnung an Marienthal vorbeigehen muss – inzwischen ist es so spät, dass den Straßenbahnen schon wieder der Strom abgestellt worden ist –, beschließt er, an diesem seinem Glückstag, auch noch einmal bei den Hellingers vorbeizusehen. Vielleicht ist der Industrielle wieder aufgetaucht, ohne dass er sich die Mühe gemacht hätte, sich bei der Polizei zu melden. Das kommt andauernd vor. Vielleicht fällt seiner Frau auch noch etwas ein. Und zumindest ist es in der Villa dort warm, und es gibt heißen Tee.
Die Straße mit den großen Häusern: dunkel wie Grüfte. Als er sich dem Anwesen nähert, bereut er seinen Entschluss für einen Moment. Denn er blickt durch ein
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