Trümmermörder
irgendwo auf einer Polizeiwache verzeichnet war und damit so gut wie unbekannt geblieben wäre. Mordakten hingegen werden gelesen: von Stave, Maschke, von Cuddel Breuer und Staatsanwalt Ehrlich mindestens. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann irgendjemand eine Verbindung zwischen Hellinger und MacDonald herstellt. Zumal es dieses rätselhafte englische Wort auf dem Zettel gibt: »bottleneck« – auch das steht in den Akten. Also lässt der Lieutenant, der aus irgendeinem Grund seinen Kontakt zu Hellinger geheim halten will, die Akten verschwinden. Selbstverständlich weiß er, dass das Stave alarmieren wird. Aber er weiß auch, dass der Oberinspektor damit wohl kaum zu seinem Vorgesetzten rennen würde, nicht bei so einem Fall. Er, Stave, rekonstruiert im stillen Kämmerlein den Fall so gut wie möglich, keine neugierigen Augen blicken mehr in die Mordakte. Das, immerhin, wäre ein Motiv.
Gelegenheit? MacDonald ist oft genug bei Erna Berg gewesen, auch dann, als Stave nicht im Büro war. Ein unbemerkter Augenblick und die Akten sind unter dem Uniformmantel verschwunden. Oder vielleicht ist seine Sekretärin ja auch eingeweiht und hat auf die Bitte ihres Geliebten hin die Dokumente mitgehen lassen. Wenn sie deshalb ein schlechtes Gewissen plagt, dann ist das Stave nicht aufgefallen, so verzweifelt, wie sie aus privaten Gründen schon ist.
Er denkt an den Ohrschmuck der Toten. Pariser Juwelier. Reichtum. Wann könnte das Opfer in der französischen Metropole gewesen sein? Vor dem Krieg? Vor zehn, höchstens fünfzehn Jahren, als junge Erwachsene. Würde eine Frau Anfang zwanzig solchen Schmuck tragen? Er versucht sich Margarethe damit vorzustellen. Absurd, sie hatten als junge Verliebte von anderen Dingen geträumt. Eine größere Wohnung. Spielsachen für Karl. Noch ein Kind. Andererseits behauptet Anna von Veckinhausen, dass dieses Ohrgehänge vor 1914 gefertigt worden ist. Zu der Zeit ist das vierte Opfer definitiv zu jung gewesen, um es zu kaufen oder es sich schenken zu lassen. Also ein Erbstück. Wer hat französischen Schmuck in Hamburg? In dieser Zeit? Reiche Familien. Aber warum geht dann keine Vermisstenmeldung ein?
Die Ermittlungen kommen voran, aber in welche Richtung führen sie? Sein Atem steigt in kleinen, blauen Wolken vor den Lippen auf, wie Zigarettenqualm.
Das erinnert ihn an Maschke.
Bis gestern war er noch froh, ihn möglichst weit fort zu wissen. Jetzt denkt er anders darüber. Bislang hat er geglaubt, er könne mit MacDonalds Hilfe jederzeit auf die Hilfe der Briten zurückgreifen, um Maschke zu holen, wann immer es ihm passt. Aber nun kann er auch dem Lieutenant nicht mehr trauen. Also wäre es besser, wenn der Kollege von der Sitte wieder in Hamburg wäre, unter Staves direkter Kontrolle. Den muss ich am Telefon erreichen, und ich darf mich nicht verplappern, denkt er. Muss ihm unter einem Vorwand sagen, er soll seine Nachforschungen bei den Ärzten abbrechen und nach Hamburg zurückkehren. Sofort.
Ungelenk zwängt er sich in den schweren Mantel. Eis hat sich über Nacht wie Firnis auf Rücken und Schultern gelegt und rieselt als glitzernder Staub zu Boden, als er den Mantel um die Schultern wirft. Alles ist eine Nummer zu groß, denkt er, ich bin zu dünn geworden. Alles eine Nummer zu groß – ob das auch auf meine Fälle zutrifft?
Hut, Schal, Handschuhe, Pistole, Taschenlampe, Dienstausweis. Warum mache ich das eigentlich? Warum gehe ich hinaus in die Kälte? Warum ducke ich mich gegen den Wind? Warum verbringe ich meine Zeit mit Leuten wie MacDonald, Ehrlich, Maschke oder Erna Berg, die eigene Pläne haben? Pläne, in denen ich bloß störe?
Aber was soll man sonst tun? In der grauen Wohnung hocken und an die verbrannte Frau denken? Und den verbitterten Sohn, der irgendwo verkommt? Falls er überhaupt noch lebt.
Ich bin jetzt dreiundvierzig Jahre alt, denkt Stave, und ich habe nicht gerade viel vorzuweisen im Leben. Dann verlässt er die Wohnung, schließt wie immer sorgfältig ab, schreitet den vertrauten Weg durch das düstere Treppenhaus, bis ihn draußen auf der Straße der Wind trifft wie eine eisige Faust.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt er Erna Berg, als er eine Stunde später das Vorzimmer zu seinem Büro betritt.
»Dem Kind in mir geht es gut. In ein paar Wochen wird man das Bäuchlein sehen, meint der Arzt.«
Keine Abtreibung also. Stave will fragen, wie sie sich entschieden hat. Wird sie es ihrem Mann beichten? Wird sie mit MacDonald durchbrennen?
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