Trümmermörder
1944: »3. Kompanie des SS-Panzergrenadierregiments 4 aufgerieben.«
Schließlich ein Schreiben auf Französisch, das Stave mit seinen lückenhaften Erinnerungen an den lange zurückliegenden Schulunterricht mühsam übersetzt: Die Staatsanwaltschaft von Limoges hat Ermittlungen aufgenommen und alle Angehörigen der SS-Einheit zur Fahndung ausgeschrieben. Danach nichts mehr. Kein Brief, kein Dokument, das belegen würde, dass je auch nur einer der SS-Männer vor Gericht gestellt worden wäre.
Der Oberinspektor massiert sich den Nacken. Die Geschichte des Mädchens kann er bestätigen. Hans Herthge war ein Mörder. Bleibt nur noch, den Beweis zu führen, dass Maschke Herthge ist. Noch einen Strich zeichnen, dann ist das Bild vollendet. Und doch hat er das vage Gefühl, irgendetwas Wichtiges übersehen zu haben.
Stave legt Ehrlich den Leitz-Ordner auf den Schreibtisch.
»Wollen Sie mich einweihen?«, fragt der Staatsanwalt.
»Bald. Ich muss noch eine andere Spur verfolgen. Dann sprechen wir uns.« Stave deutet auf den Ordner: »Sie werden Gelegenheit haben, diese Akten um ein paar neue Dokumente zu ergänzen.«
»Sie sind mein Mann«, antwortet Ehrlich.
Stave geht die Feldstraße hinunter, die kleinen Straßen von St. Pauli, schließlich erreicht er Altona. Er marschiert schnell, so hält er die angenehme Wärme des Büros im Körper, bis er vor dem Gebäude des Suchdienstes steht, das pompöse Portal aufzieht und auf die endlosen Reihen kartonierter Schicksale blickt. In den düsteren Gängen ist niemand zu sehen, selbst die Nachforschungen nach Vermissten scheinen im Frost erstarrt zu sein. Beim Sachbearbeiter Andreas Brems klopft er an die Bürotür und tritt ein, ohne eine Aufforderung abzuwarten. Der wird schon nicht überarbeitet sein, denkt der Oberinspektor.
Brems lächelt milde und müde. »Suchen Sie Ihren Vermissten oder einen Vermissten?«, fragt er.
»Einen Vermissten. Lothar Maschke.«
Brems deutet auf einen Schreibtisch. »Bitte warten Sie.«
Dann schlurft er hinaus und kehrt mit einer gelben Karteikarte zurück.
»Maschke, Lothar, geboren 1916 in Flensburg, wohnhaft in Hamburg seit 1920, zur Kriegsmarine gezogen im September 1939, zuletzt Matrosenobergefreiter auf U-453. Als vermisst gemeldet am 2. Juni 1945 von seiner Nachbarin: Wilhelmine Herthge.«
»Jetzt habe ich dich«, murmelt Stave.
Das wird die Mutter seines Kollegen sein, vermutet er. Die meldet einen Nachbarn vermisst – und ungefähr zur gleichen Zeit kommt der Sohn aus dem Krieg zurück. Der Sohn, der irgendwie die Kämpfe in der Normandie überlebt hat, die vielleicht alle seine SS-Kameraden das Leben gekostet haben. Und der zuvor in Oradour gemordet hat. Ein Sohn, der wohl schon ahnt, dass ihm dieses Massaker noch gefährlich werden könnte. Und der erkennt, dass ein Nachbar, der ungefähr genauso alt ist wie er, verschollen ist. Ein Nachbar, der keine Verwandten mehr hat, denn warum hätte Frau Herthge ihn sonst als vermisst melden sollen und keine Mutter oder Ehefrau? Wie leicht ist es da, in die leere Wohnung einzubrechen, sich ein paar Papiere zu besorgen und einen neuen Namen anzunehmen? Man muss nur die eigene Mutter überzeugen, aber die wird ihren Sohn schon nicht verraten. Einen Sohn, der fortan fügsam zu Hause bleibt und garantiert nicht in die Fremde zieht. Die Mutter kann sogar ihren Namen behalten. Wem würde schon auffallen, dass Mutter und Sohn unterschiedliche Nachnamen haben? Und wenn doch: Dann wird jeder denken, die Mutter hätte – vielleicht, weil sie verwitwet ist – nach der Geburt ihres Sohnes noch einmal geheiratet und trage nun den Namen ihres zweiten Mannes, während der Sohn den des ersten behalten hat. Nichts Ungewöhnliches in Zeiten, da Millionen Frauen ihre Gatten verloren haben. Keine Beerdigung, kein Totenschein, keine Abmeldung bei irgendeinem Amt – der echte Lothar Maschke ist ja nie für tot erklärt worden. Und wer gleicht die Namen aller Bürger Hamburgs mit denen in den Karteikästen des Suchdienstes ab? Niemand. Also wird aus Hans Herthge der neue Lothar Maschke. Dieser neue Maschke besorgt sich Papiere – leicht in einer Stadt, in der Zehntausende Personalausweise und Geburtsurkunden im Bombenhagel verloren haben. Wer kontrolliert da jeden Antrag auf Neuausstellung? Also übernimmt der neue Maschke die Zeugnisse des alten, bekommt die Lebensmittelkarten seines Vorgängers, wird vielleicht irgendwann mal von einem britischen Offizier auf alte Nazi-Verbindungen überprüft.
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