Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Trümmermörder

Trümmermörder

Titel: Trümmermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
Vom Netzwerk:
Kriegsgefangene Vorrang. Nicht unmöglich, doch unwahrscheinlich, dass eine Fremde von auswärts in den letzten Tagen hier angekommen ist, zumindest in einer so guten körperlichen Verfassung wie das Opfer.«
    »Es sei denn, jemand hat sie mit dem Auto gefahren«, murmelt MacDonald versonnen.
    Stave bewundert die Ehrlichkeit des Lieutenant, denn daran hat er auch schon gedacht, doch nicht gewagt, das so offen anzusprechen. »In der Tat«, antwortet er. »Benzin ist rationiert, Deutsche müssen ein Fahrtenbuch führen, längere Touren müssen genehmigt werden. Zudem existieren kaum noch intakte Autos oder Lastwagen. Nicht sehr wahrscheinlich, dass ein Deutscher die Unbekannte mitgenommen haben könnte. Ein Brite hingegen hätte das tun können.«
    »Nette Theorie«, murmelt Maschke schadenfroh.
    MacDonald bleibt ungerührt. »Ich habe ja ein Foto der Toten. Ich höre mich mal bei meinen Kameraden um.«
    Stave lächelt. »Danke. Glücklicherweise ist die, nennen wir sie ›britische Spur‹, nicht die einzige, die wir verfolgen. Gehen wir als Hypothese davon aus, dass unsere Tote weder ein Straßenmädchen noch eine verloren gegangene Tochter aus gutem Hause noch eine Arbeiterin noch ein Neuankömmling war – dann bleiben immer noch ein paar Alternativen übrig. Vielleicht war unsere Unbekannte Sekretärin, bei der Stadtverwaltung, bei den Besatzungsbehörden, in einer der Firmen, die schon wieder geöffnet haben.«
    »Oder Verkäuferin, vielleicht in einem Modegeschäft«, wirft Maschke ein. » C & A an der Mönckebergstraße ist offen.«
    Der Oberinspektor nickt. »Weiter: Unsere Unbekannte verdient also auf ehrliche Art ihr Geld, genug jedenfalls, um sich ordentlich zu pflegen. Jetzt verschwindet sie, aber niemand meldet sich bei der Polizei. Also hat sie vielleicht weder Freunde noch Verwandte hier?« Er denkt an Erna Berg. »Vielleicht eine Kriegerwitwe? Oder eine Flüchtlingsfrau, die aber schon vor ein, zwei Jahren in Hamburg angekommen ist?« Stave steht auf und geht mit großen Schritten durch sein Büro. Plötzlich fühlt er sich nicht mehr müde. »Andererseits: Vielleicht hat sie auch einen Freund, einen Verwandten, aber der wird sich hüten, bei uns aufzukreuzen – weil er nämlich der Mörder ist! In den meisten Fällen wie diesen kennen sich Täter und Opfer. Müssen wir also nach dem Verlobten der Unbekannten suchen? Oder nach ihrem Onkel? Möglich.«
    »Was also schlagen Sie vor?«, fragt MacDonald.
    »Abwarten. Bald haben wir den Obduktionsbericht. Bald hängen überall in der Stadt unsere Plakate. Nur Geduld. Dieser Fall ist noch nicht einmal einen Tag alt.«
    »Einen anstrengenden Tag«, brummt Maschke.
    Stave lächelt kühl. »Wir treffen uns morgen wieder hier. Guten Abend.«
    Eine Stunde später steht er in seiner eisigen Wohnung und facht das Feuer an. Aus dem Keller hat er drei Kartoffeln von seinen kargen Vorräten geholt. Sie sind eingefroren und sondern beim Auftauen einen süß-säuerlichen Schleim ab. Er kocht sie auf seiner Brennhexe, danach seinen letzten Weißkohlkopf. Anschließend dreht er Kartoffeln und Kohl durch den Fleischwolf, formt die breiige Masse zu einem langen Laib, gibt Salz hinzu und brät alles in der Pfanne. »Falsche Bratwurst« nennt eine Nachbarin das Gericht. Sie hat ihm das Rezept verraten. Und obwohl das Kochen auf der kleinen Feuerstelle mehr als eine Stunde dauert, nimmt sich Stave diese Zeit. Erstens hat er am Ende als Belohnung wenigstens die Illusion, etwas Nahrhaftes zu essen. Und zweitens lenkt ihn das Kochen vom Denken ab.
    Irgendwann jedoch ist er fertig. In Pullover, Trainingshosen und viele Decken gehüllt, liegt er auf dem Bett und starrt zum Fenster, wo sich Mondlicht in der Eisschicht bricht und seltsame grünliche Muster formt.
    Stave will an die Tote denken. Will das Für und Wider aller Theorien im Geist abwägen, nach möglicherweise übersehenen Spuren suchen. Doch vor das Bild der Unbekannten schiebt sich unweigerlich das Bild seiner Frau. Und dann ist sein Geist gefangen in jener Bombennacht vor fast vier Jahren.
    Wenn ich wenigstens Schnaps hätte, denkt Stave, dann könnte ich mich betrinken.

Gefrorener Boden
Dienstag, 21. Januar 1947
    Eine Flammenwand, gelb, rot, weiß, blau. Gluthitze im Gesicht, schmerzender Atem. Berstende Balken, platzende Ziegelsteine, lauter als Maschinengewehrfeuer. Der Gestank nach brennenden Haaren und verschmorter Haut. Stave in den Trümmern, überall Feuer, er rennt und rennt, sein verdammtes Bein lässt

Weitere Kostenlose Bücher