Trümmermörder
haben. An einem großen Tisch in einer Art Nische spielen acht junge, elegant gekleidete Männer Karten. Poker. Und die Scheine, die auf dem Tisch liegen, sind 1000-Reichsmark-Scheine.
Scheißkerle, denkt Stave, doch er weiß selbst, dass Neid seine moralische Entrüstung befeuert. Schwarzhändler, die nächtelang zocken, goldene Uhren am Handgelenk. »Das Ritterkreuz des Schwarzhändlers«, nennt ein Kollege das. Stave weiß von ihm, dass hier Lebensmittelkarten unter Mantelkragen versteckt sind, dass Schmuck und Medikamente über die Tische gehen, eingewickelt in Zeitungspapier. Doch nicht schon jetzt, am frühen Abend. Und außerdem ist das nicht sein Problem. Vorsichtig schlürft er die heiße Suppe.
»Keine Ahnung, was das für Gewürze sind«, nuschelt MacDonald zwischen zwei Löffeln erstaunt, »aber das wärmt fast so gut auf wie ein Single Malt Whiskey.«
Stave verzichtet darauf, dem Lieutenant zu erzählen, dass er seit acht Jahren keinen Schluck Whiskey mehr gekostet hat. »Gut«, murmelt er nur. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlt er sich gewärmt, sein Mund brennt und ist zugleich betäubt von exotischen Gewürzen. Er spürt, wie sich alle seine Muskeln entspannen. Wenn ich jetzt nicht aufstehe, dann schlafe ich vor MacDonalds Augen ein, denkt er. Also drückt er sich hoch.
»Auf in den Kampf. Sie übernehmen die Hälfte der Gäste«, er deutet vage eine Linie quer durch den Raum an, »ich die andere. Wir treffen uns an der Tür.«
Nach ein paar Minuten verlassen sie gemeinsam das »Kamsing«, so klug wie zuvor. Sie schlendern über die Reeperbahn zurück bis zur Davidwache, wo Maschke schon auf sie wartet. Sein Atem steht als kleine, weiße Wolke vor dem Mund, die Nasenspitze ist bläulich verfroren, er schlägt die Hände zusammen. Plötzlich hat Stave Mitleid mit ihm.
»Niemand hat unsere Frau je hier auf der Reeperbahn gesehen. Muss ein braves Mädchen gewesen sein«, verkündet er.
Maschkes Zynismus irritiert ihn. Ist der wirklich so abgebrüht? Oder verbirgt sich dahinter etwas anderes? Die Schüchternheit des erwachsenen Mannes, der noch bei seiner Mutter wohnt? Oder hat Maschke sogar, wie viele ältere Kollegen bei der Sitte, schon in seiner kurzen Dienstzeit eine Art Beschützerinstinkt gegenüber »seinen« Straßenschwalben entwickelt? Klingt da vielleicht so etwas wie Erleichterung durch? Erleichterung darüber, dass keines der Reeperbahnmädchen vermisst wird?
»Wir marschieren zurück ins Büro, besprechen kurz die Lage und gehen dann heim zu Muttern«, bestimmt der Oberinspektor.
In seinem Büro starrt Stave aus dem Fenster. Hamburg liegt fast so düster unter ihm wie zu Zeiten der Verdunkelung. Zwei, drei gelbliche Lichtschimmer irgendwo aus Häusern, wahrscheinlich welche, die die Briten requiriert haben. Der flackernde Schein von Holzfeuern in selbstgebauten Öfen, lebensgefährlich in den kleinen, halb zerbombten Gebäuden. Das Glimmen von Kerzen. Sein Büro selbst wird von einer trüben Glühbirne in gräuliches Licht getaucht. Stave wirft ihr einen besorgten Blick zu. Sollte sie durchbrennen, dann weiß er nicht, wann er Ersatz bekommen wird. Vielleicht erst im nächsten Frühjahr. Er seufzt und wendet sich den beiden anderen zu, die am Schreibtisch vor ihm sitzen.
Erna Berg ist längst gegangen. Auf den Tisch hat sie den Bericht von Polizeiinspektor Müller gelegt. Stave überfliegt ihn schweigend. »Kein Chirurg hat die Tote erkannt«, verkündet er schließlich. Er ist erschöpft. »Selbstverständlich hat der Kollege an einem Nachmittag noch nicht alle einschlägigen Ärzte der Stadt angetroffen, er wird morgen weitermachen. Aber auch die Blinddarmnarbe der Toten scheint uns zumindest vorerst nicht auf die Spur zu bringen. Eine Vermisstenmeldung ist übrigens in den letzten Stunden auch nicht eingegangen.«
Maschke trommelt mit seinen nikotingelben Fingern ungeduldig auf die Schreibtischplatte. »Sieht mir danach aus, als sei sie kein Straßenmädchen gewesen«, verkündet er.
»Vielleicht war sie neu in Hamburg?«, wirft MacDonald ein.
»Das Eis auf der Elbe ist einen Meter dick, der Hafen ist zu«, gibt Stave zu bedenken. »Die meisten Bahnstrecken sind vereist: festgefrorene Weichen, Schneewehen.«
»Zerbombte Brücken, zerstörte Bahnhöfe«, setzt Maschke bissig hinzu. MacDonald ignoriert ihn.
»Die meisten Züge, die dennoch durchkommen, haben Kohle oder Kartoffeln in den Waggons, nicht Menschen. Und bei den wenigen Personenzügen haben heimkehrende
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