Trümmermörder
er wieder frei, weil ihm Freunde aus London ein britisches Visum verschafft hatten. Er verkaufte seine Kunstsammlung – zu einem Spottpreis, wie ich vermute. Mit seinem letzten Geld ergatterte er im Sommer 1939 eine Passage nach England. Seine Frau durfte nicht mit, das Visum galt nur für ihn. Dann brach der Krieg aus.«
MacDonald machte eine fast entschuldigende Geste. »Die Frau war allein. Gedemütigt, verlassen von Mann und Söhnen. Die Nachbarn mieden sie, sie konnte nicht einmal Klavierstunden mehr geben, weil sich niemand bei ihr blicken lassen wollte. Ehrlich war in London wie ein gefangener Tiger, er hat alles versucht, sie irgendwie herauszuholen – über die Schweiz, die USA, Spanien, Portugal. Keine Chance. 1941 kam dann über das Rote Kreuz die Nachricht, dass seine Frau sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen hatte.
Ich kannte Ehrlich da schon. Er war in Oxford untergekommen und dozierte über römische Rechtsgeschichte. Wir haben uns, nun, angefreundet wäre wohl zu viel gesagt. Vor ein paar Monaten habe ich ihm die Stelle bei der Staatsanwaltschaft vermittelt.«
»Sie haben was?«, entfährt es Stave.
MacDonald lächelt ironisch, und Stave fragt sich, wie viel Macht jener junge Offizier tatsächlich hat.
»Ehrlich wollte nach Deutschland zurückkehren – um mitzuhelfen, die Demokratie aufzubauen, wie er sagt. Da habe ich bei unseren Leuten nachgefragt und ihm diesen Posten angeboten. An unbelasteten Juristen mangelt es, wir sind dankbar für jeden Nicht-Nazi, den wir irgendwo auftreiben können. Nicht nur bei der Staatsanwaltschaft, auch bei der Polizei.«
Ein Kompliment, erkennt Stave verblüfft. »Aber warum ausgerechnet in Hamburg? Hier hat Ehrlich doch noch etliche Rechnungen offen. Kein gutes Motiv für einen Staatsanwalt.«
»Im Gegenteil: ein exzellentes Motiv«, erwidert MacDonald. »Herr Ehrlich ist einer der Ankläger im Curiohaus-Prozess.«
Das muss MacDonald Stave nicht erklären: In dem Gebäude an der Rothenbaumchaussee findet seit dem 5. Dezember 1946 das Gerichtsverfahren gegen neun Männer und sieben Frauen statt, die angeklagt sind, als Aufseher des Frauen-KZs Ravensbrück für den Mord an Tausenden verantwortlich zu sein.
»Und da hat er noch Zeit für diesen neuen Fall?«
»Er hat selbst darum gebeten. Herr Ehrlich arbeitet viel«, antwortet der Lieutenant.
Nachdem der Brite das Büro verlassen hat, bleibt Stave noch sitzen. Warum Ehrlich? Beim Curiohaus-Prozess kann er besonders brutale Nazis auf das Schafott bringen. Aber was interessiert einen politisch eingestellten Staatsanwalt wie ihn eine nackte, namenlose Frauenleiche? Ein schwieriger Fall, vielleicht. Aber kein politischer. Oder doch?
Schließlich gibt Stave auf und erhebt sich seufzend. Möglicherweise reizt den Staatsanwalt gerade das Rätselhafte an diesem Mord, jenseits aller persönlichen Motive. Oder vielleicht hofft er, über eine Straftat, an deren Aufklärung die Kripo scheitert, ein paar Krimsches fertigzumachen, die damals allzu eng mit der Gestapo zusammengearbeitet und trotzdem die Entlassungen nach 1945 überstanden haben.
Gut möglich, dass er es bald herausfindet. Leider auch möglich, dass Ehrlich irgendwie erfährt, was Stave 1938 unternommen hat, um die Plünderung der Synagogen zu verhindern. Nämlich nichts.
Das Hamburger Strafjustizgebäude ist ein riesenhaftes Renaissanceschloss: hellrote Fassade, weißgelber Sandstein, weiße, hohe Fenster, manche von gedrechselten Säulen flankiert. Ein wuchtiger Kasten aus dem 19. Jahrhundert, der unglaublicherweise von jeder Bombe des Zweiten Weltkriegs verfehlt worden ist. Die Staatsanwaltschaft hat dort ihre Büros.
Stave betritt das Gebäude. Es waren nur ein paar Schritte von der Kripo-Zentrale quer über den Platz, an der Musikhalle vorbei und durch einen verwilderten kleinen Park.
Kurz darauf sitzt er auf einem unbequemen Besucherstuhl in Ehrlichs Büro. Stave ist nervös, fast fühlt er sich wie ein Schüler, der ins Zimmer des Rektors gerufen worden ist; er ärgert sich über sich selbst, aber das vertreibt die innere Unruhe auch nicht. Verstohlen schaut er sich um, während sein Gegenüber noch in Akten blättert.
Doktor Albert Ehrlich ist klein und glatzköpfig; die Augen schwimmen hinter den dicken Gläsern einer altmodischen, dunklen Hornbrille. Schlips, Kragen, messerscharf gebügelte Hosen, englisches Tweed-Jackett. Kein Foto seiner Frau oder seiner Söhne im Büro, überhaupt kein persönlicher
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