Trümmermörder
Der Täter kann die Toten ja nur so verstecken, dass sie früher oder später entdeckt werden. Wie soll er eine Leiche verschwinden lassen? Mit ein paar Betonbrocken beschweren und ins Wasser werfen? Selbst auf der Elbe ist das Eis über einen Meter dick, die Alster und die Fleete sind inzwischen bis zum Grund vereist. Vergraben? Der Boden ist steinhart gefroren. Verbrennen? In Hamburg gibt es fast kein Benzin mehr, keine Kohlen, kaum noch Holz. In dieser Hinsicht ist der Winter ein Freund der Polizei – kein Mörder kann sein Opfer verschwinden lassen.« Stave strafft sich. »Wir haben noch einen Zeugen?«
Der Lieutenant lächelt säuerlich. »Vielleicht. Ich habe einen Militärpolizisten mit dem Jungen in einen Wagen gesetzt. Da ist es nicht ganz so kalt – und der Junge muss das hier nicht mit ansehen.« Er deutet auf die Leichenträger, die mit ihrer leichten Last eben zwischen zwei Mauern verschwinden.
»Vielleicht doch«, brummt Stave und macht den dunklen Männern ein Zeichen, dass sie die Bahre absetzen sollen.
MacDonald ruft einen Befehl auf Englisch. Ein Militärpolizist bringt daraufhin einen mageren Jungen heran, der unter einem viel zu weiten Erwachsenenmantel fast verschwindet; struppiges, braunes Haar, vielleicht Kopfläuse, schorfiger Ausschlag am Hals, fehlender linker Vorderzahn.
»Wie heißt du?«, fragt Stave und bedeutet dem Briten, den Jungen nicht allzu nahe heranzuführen.
»Jim Mainke.«
»Jim?«
»Wilhelm.«
»Alter?«
»Sechzehn.«
»Netter Versuch. Alter?«
»Vierzehn. Im Sommer werde ich vierzehn.«
»Wo wohnst du?«
Wilhelm Mainke deutet vage über die Ruinenlandschaft.
»Bei deinen Eltern?«
»Zum Glück nicht«, erwidert der Junge und lächelt. »Dann läge ich auf dem Öjendorfer Friedhof.«
Den Oberinspektor ärgert die freche Antwort, doch er bleibt ruhig. »Muss ich dir alles aus der Nase ziehen? Oder kannst du mehr als zwei Sätze am Stück reden?«
Mainke verdreht die Augen. »Mein Vater war Arbeiter bei Blohm und Voss, meine Mutter Hausfrau. Sind beide 1943 bei einem Bombenangriff draufgegangen. Ich war bei meiner Oma auf dem Land, evakuiert. Meine Oma ist aber letztes Jahr gestorben, also bin ich zurück nach Hamburg. Ich lebe in einem Keller in Rothenburgsort, mit ein paar Freunden.«
Ungefähr das hat sich Stave schon gedacht. Mehr als eintausend elternlose Kinder vagabundieren durch Hamburg, Bombenwaisen, verloren gegangene Flüchtlingskinder, ausgerissene DPs. Manche bilden Banden und schlagen sich wortwörtlich durchs Leben, andere sammeln Kohlen, plündern Ruinengrundstücke, verdingen sich als Handlanger bei den Schwarzhändlern – oder bieten sich am Bahnhof an.
»Du bist oft hier?«, fragt er.
»Klar. Ich kenne mich im Hafen aus, habe meinen Vater früher manchmal besuchen dürfen auf der Werft. Ich sammle hier Kohle.«
»Wie viele andere Kinder auch?«
Mainke zuckt die Achseln. »Hier stromern oft welche rum. Dreißig, vierzig, denke ich. Jetzt ein paar weniger, ist zu kalt.«
»Und heute Morgen warst du wieder unterwegs?«
»Ja, bis mich die Streife festgenommen hat.«
»Hast du das tote Mädchen gesehen?«
Mainke schüttelt schnell den Kopf. »Als ich hier aufkreuzte, waren die Schupos schon da. Sie haben mich nicht näherkommen lassen.«
»Aber du weißt, warum die Polizei hier ist?«
Der Junge nickt. »Einer der Militärpolizisten hat es mir gesagt.«
»Warst du gestern auch hier?«
»Nein, musste mir erst einmal was zu beißen organisieren. Ist sicher zwei, drei Tage her, dass ich zuletzt hier war.«
»Kann es sein, dass das Mädchen da schon im Fahrstuhlschacht gelegen hat – und das ist dir nicht aufgefallen?«
Der Junge schüttelt gleichmütig den Kopf. »Die könnte da schon Jahre liegen und ich hätte die nicht gesehen. Ich gehe immer nahe am Ufer entlang, da liegen die Kohlen, wenn man Glück hat. Sobald ich ein paar zusammen habe, mache ich mich davon. Lohnt nicht, länger hier zu bleiben. Lohnt nicht, in den Ruinen herumzuwühlen. Hier findet man sowieso nichts mehr.«
»Außer einem toten Mädchen.«
Jim Mainke schweigt.
Stave seufzt. »Es tut mir leid, dass ich dir das jetzt antun muss, aber komm mit.«
»Verhaften Sie mich?«
»So ähnlich. Aber das meine ich jetzt nicht.«
Der Oberinspektor führt den Jungen bis zur Bahre, wo die beiden Träger fröstelnd warten und rauchen. Der Militärpolizist mustert Stave missbilligend, wirft MacDonald einen Blick zu und entspannt sich erst, als der Lieutenant fast
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