Trümmermörder
unmerklich nickt.
Stave zieht die Decke vom Kopfende der Bahre. »Kennst du das Mädchen?«
Mainke übergibt sich nicht, wird nicht einmal blass, sondern starrt die Tote aufmerksam an. So lange, dass es dem Oberinspektor schließlich zu viel wird und er die Decke wieder über die leeren Augen des Opfers zieht.
»Die habe ich noch nie gesehen«, sagt der Junge.
Stave nickt den Trägern zu, die ihre Last wieder aufnehmen und verschwinden.
»Was haben Sie jetzt mit mir vor?«, fragt Mainke. »Kann ich weiter Kohlen sammeln?«
»Du bist zu jung. Ich kann dich nicht einfach laufenlassen. Zwei Schupos werden dich zum Rauhen Haus bringen.« Eine Durchgangsbaracke in Harburg, wo alle von der Polizei aufgegriffenen elternlosen Kinder untergebracht werden. Ein ehemaliger Schlosser sorgt als Hausvater für Ordnung, einige Freiwillige, christliche Idealisten, kümmern sich um die Mädchen und Jungen, entlausen und waschen sie, behandeln Krätze und andere Krankheiten, sorgen für warme Suppe und ein sauberes Bett. Trotzdem hauen die meisten Kinder schon nach ein paar Tagen wieder ab.
Mainke wendet sich ab und trottet hinter dem Militärpolizisten her.
»Wieso nennst du dich Jim?«, ruft ihm Stave nach.
Mainke blickt noch mal zurück, diesmal ein echtes Jungengrinsen im Gesicht. »Ich habe einen Onkel in Amerika. Echt. In New York. Da gehe ich hin, sobald wieder große Schiffe im Hafen sind.«
»Viel Glück«, murmelt Stave, doch Mainke hört ihn schon nicht mehr.
»Ein Zeuge?«
Stave fährt herum, als er die Stimme seines Vorgesetzten hört: Cuddel Breuer steht vor ihm.
»Wahrscheinlich nicht. Der Junge kreuzte erst hier auf, als schon einige Beamte am Fundort waren.«
»Und sonst?«
»Das Übliche«, hätte der Oberinspektor beinahe geantwortet, überlegt es sich im letzten Moment jedoch anders. Knapp referiert er, was sie gefunden haben.
»Denken Sie, dass es wieder derselbe Täter ist?«, fragt Breuer ihn.
Stave zögert, atmet tief durch, nickt dann. »Ja. Die Opfer Nummer zwei und drei scheinen etwas miteinander zu tun zu haben. Familienmitglieder, vermute ich, auch wenn man das noch nicht beweisen kann. Die Umstände der Tat sind auffallend ähnlich: erwürgt mit einer dünnen Schlinge; ausgeraubt bis auf die Haut; abgelegt in einem Trümmergrundstück. Es ist außerdem möglich, dass die Kleine am gleichen Tag umgebracht wurde wie die anderen beiden Opfer.«
»Ein Mörder, der eine ganze Familie auslöscht?« Breuer blickt sich um. »Haben wir hier noch etwas zu tun?«
»Der Kollege von der Spurensicherung wird noch einmal alles abgehen. Aber ansonsten müssen wir nicht länger hierbleiben.«
»Gut. Lassen Sie uns zur Zentrale fahren. Ich nehme Sie mit.«
Stave folgt seinem Chef zu dessen altem Mercedes. Breuer steuert selbst. Er fährt schnell, gelassen, selbstbewusst – Maschke bleibt in seinem Peterwagen rasch zurück.
»Jetzt haben wir eine Serie«, sagt Breuer, blickt dabei aus der Frontscheibe.
»Sieht leider so aus.«
»Wir werden das nicht mehr lange verheimlichen können. Die Art der Morde, die Aufrufe zur Identifizierung der Toten: Früher oder später wird ein Journalist die Taten verbinden und daraus eine Geschichte stricken.«
»Das lässt sich nicht steuern.«
»Nicht mehr, zum Glück. Das ist der Preis der Demokratie made in Great Britain. Alles in allem sind wir damit gut gefahren, auch Sie und ich persönlich, Stave. Aber trotzdem wünschte ich mir in diesem einen, besonderen Fall fast die alten Zeiten zurück, da man den Schreiberlingen einfach befehlen konnte, was sie zu drucken hatten – und was nicht.«
»Selbst das würde nichts nützen. Die Leute werden reden. Es wird Gerüchte geben. Da ist mir eine Geschichte in der Zeitung lieber, da weiß ich wenigstens, woran ich bin.«
»Und woran sind Sie?«
Stave zuckt die Achseln. »Man wird nicht mehr schreiben können als das, was wir wissen. Und das ist wenig genug.«
Breuer blickt ihn zum ersten Mal an, obwohl er gerade mit Schwung auf den Platz vor der Zentrale einbiegt. »Wir haben eine Mordserie. Der Täter schlägt vielleicht in Trümmergrundstücken zu, zumindest werden viele Menschen das so verstehen. Hamburg ist ein einziges Trümmerfeld. Schlimmer noch: Die Opfer sind eine Frau, ein alter Mann, ein Mädchen. Was werden die Leute daraus lesen? Dass es alles Angehörige einer bedauernswerten Familie sind? Die Opfer eines intimen Dramas? Nein. Die werden daraus lesen, dass es jeden erwischen kann. Dass Frauen und
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