Trümmermörder
Nachricht. Doch der Absatz vor der Wohnung ist leer. Stave schließt die Tür auf, dann hinter sich wieder sorgfältig zu. Er wirft sich auf das zerschlissene Sofa, noch in Mantel und Hut. Elende Kälte. Er müsste in die Küche gehen, sich irgendetwas zwischen die Kiefer zwingen. Zu erschöpft. Anna. Nicht daran denken. Der Oberinspektor schläft auf dem Sofa ein, sein letzter klarer Gedanke vor dem Abgleiten in die Dunkelheit ist die Verblüffung darüber, wie müde er tatsächlich ist.
Nummer vier
Mittwoch, 12. Februar 1947
Die Hölle, denkt Stave, ist nicht heiß, sondern kalt. Wenn er aus seinem Bürofenster blickt, sieht er Häuser wie nachlässig sauber gemacht: die Dächer und die nach Norden und Osten weisenden Wände freigebürstet von einem Wind, der sich in der Arktis mit Eis vollgesogen hat und mit unsichtbarem Hobel Schindeln und Putz abschmirgelt. Im Windschatten hat er pockige Eisplatten gelassen und Schleier aus Pulverschnee auf Regenrinnen, Fenstersimsen, in den leeren Türzargen ausgebombter Häuser. Die Temperatur hat sich seit Januar nicht geändert, nur das Licht: Acht Stunden steht eine blau schimmernde Sonne am wolkenlosen Himmel, taucht die Welt in eine Helligkeit, die selbst kleinste Details überdeutlich macht. Jeden Riss in der Fassade der Musikhalle am Platz gegenüber kann der Oberinspektor sehen wie auf einem Stich von Dürer, jedes beschädigte Säulenkapitell wirft groteske Schatten. Nur ich tappe im Dunkeln, denkt Stave, das ist ein schlechter Witz.
Doktor Czrisinis dritter Obduktionsbericht liegt längst in seinen Akten. Vermutliche Tatzeit: um den 20. Januar. Keine weiteren Auffälligkeiten. Stave fragt sich, wie viele Menschen noch an diesem Tag umgebracht worden sind – und wann deren Körper wohl gefunden werden.
Kleensch hat seinen Artikel in der Zeit gebracht: Abgewogen, keine haltlose Spekulation, keine Hysterie, keine voreiligen Hoffnungen – doch genug, um zu signalisieren: Die Polizei kommt voran. Cuddel Breuer und Staatsanwalt Ehrlich hat Stave zuvor informiert, damit sie die neue Entwicklung nicht aus der Zeitung erfahren.
Und sonst: nichts.
Er hat Männer am Fundort neben der Lappenbergsallee postiert, eine erbärmliche Aufgabe in dieser Kälte. Nun hassen ihn einige durchgefrorene, zu Tode gelangweilte Beamte dafür, denn niemand hat sich dort blicken lassen. Keine Reaktion des Mörders, kein Hinweis aus der Bevölkerung, keine neue Spur, nichts, nichts, nichts.
Keine Reaktion auch von Anna von Veckinhausen. Ob sie den Artikel gelesen hat? Ob sie wütend ist auf ihn? Stave hat MacDonald gebeten, ihre Geschichte vom Verkauf des kitschigen Bildes zu überprüfen. Sie scheint zu stimmen. Zwar hat MacDonald noch nicht den Kameraden gefunden, dem sie an jenem fraglichen Tag ein Bild verkauft haben will. Doch Anna von Veckinhausen ist, wie sich herausstellt, bei vielen britischen Offizieren bekannt, ihre Ware wird geschätzt. Der Lieutenant hat ihm freundlich bedeutet, dass einige höhere britische Beamte extrem unglücklich wären, würde sie zukünftig nicht mehr liefern. Der Oberinspektor hatte genickt und etwas Unverständliches gemurmelt. Die Botschaft hatte er verstanden.
Er würde Anna von Veckinhausen in Zukunft kaum mit Anschuldigungen wegen Plünderung oder Schwarzmarktgeschäften unter Druck setzen können. Sie würde freiwillig kooperieren oder gar nicht. Und sollte sie doch etwas mit den Morden zu tun haben, dann müsste er schon sehr gute Gründe präsentieren, um sie sich vornehmen zu können.
In Bezug auf »Bottleneck« hat MacDonald nichts erreicht. Der Industrielle Hellinger bleibt verschwunden.
Maschke hat alte Ärzte abgeklappert, die sich zur Ruhe gesetzt haben – es war seine eigene Idee, er hat die Adressen von der Ärztekammer bekommen. Dann hat er die Mediziner nach den Opfern befragt, vor allem nach dem alten Mann. Erfolglos. Trotzdem eine gute Idee, denkt Stave, darauf hätte ich auch selbst kommen können. Der Kollege von der Sitte wird immer besser.
Stave starrt auf die schmalen Ordner, die er sorgfältig nebeneinander auf seinem Schreibtisch platziert hat. Drei Ermittlungen. Drei Mordakten. Drei Mal ein paar Blätter Papier und einige Fotos. Steckt die Lösung dieses Falles schon irgendwo in diesen Akten? Was hat er übersehen?
Es ist exakt zwölf Uhr, als seine Tür aufgerissen wird. Maschke stürmt herein.
»Was halten Sie von Anklopfen?«, fragt Stave.
»Wir haben einen neuen Mord«, keucht der Beamte von der
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