Trümmermörder
dann und lässt sich drängen, ganz nah heran an die Frau, die für ihn den Trümmermörder hervorlocken soll. Er lächelt entschuldigend.
»Nur ein paar Haltestellen, dann können wir wieder frische Luft schnappen«, sagt sie.
Ein Ruck, das Kreischen von rostigen Stahlrädern auf Schienen, eine eckige Bewegung, als die Straßenbahn eine Kehre nimmt. Stöße in Schultern und Bauch, das plötzliche Gewicht des schwankenden Nebenmannes, der Schmerz in der Hand, als jemand hilfesuchend den Haltegriff packt, den man selbst umklammert hält. Grobe Worte, halblaut und auch lauter. Niemand entschuldigt sich. Alle bemühen sich, aneinander vorbeizustarren.
Stave schweigt. Jedes heftige Wort ist gefährlich. Niemand weiß, was der Nebenmann im Krieg gemacht hat. Es sind schon Leute, die halblaut geflucht haben, von ehemaligen Russlandsoldaten einfach so niedergestochen worden. Und Halbwüchsige, die als fünfzehnjährige Buben der Hitlerjugend noch an der Front kämpften, haben jemanden, der sie versehentlich anrempelte, zu Tode geprügelt. Verwüstete Gesellschaft, denkt der Oberinspektor, und wir Krimsches räumen die Trümmer beiseite.
Wieder kommt Stave nicht dazu, etwas zu sagen. Diese obszöne Enge. Jeder könnte jedes Wort im Waggon verstehen. Wer nicht flucht, der schweigt. Was sollte ich ihr auch erzählen, denkt er.
Glücklicherweise leert sich die Bahn nach der dritten und der vierten Haltestelle – unmarkierten Punkten im Trümmermeer, an denen rätselhafterweise Dutzende aussteigen. Wo wollen die hin?, fragt sich der Oberinspektor.
Nun, da ein Durchkommen ist, schiebt sich ein schwitzender Schaffner heran. Stave reicht ihm eine Mehrfachkarte, die er schon vor zwei Wochen erstanden und bislang nur für eine Fahrt benutzt hat. Einzelfahrscheine werden nicht mehr verkauft, Papiermangel. Stave fährt selten, um Geld zu sparen, das er in Zigaretten anlegt, mit denen er wiederum am Bahnhof Informationen von Kriegsheimkehrern kauft. Außerdem stärken Spaziergänge sein Bein.
»Zwei Personen«, sagt er zum Schaffner.
»Wie großzügig«, antwortet sie.
Gut, dass sie keinen Namen genannt hat, denkt er. Hätte sie »Herr Oberinspektor« gesagt, dann wäre ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit in der Bahn sicher gewesen. Keine freundliche Aufmerksamkeit, bei einem Waggon, der mindestens zur Hälfte mit Leuten gefüllt ist, die gerade vom Schwarzmarkt kommen.
»Fahren Sie oft mit der Straßenbahn?«, fragt Stave überflüssigerweise, als sich endlich so viel Raum um sie gebildet hat, dass er glaubt, normal mit ihr reden zu können.
»Das habe ich in Hamburg gelernt.«
»Und wie sind Sie früher so herumgekommen?«
Sie blickt ihn aufmerksam an, auch etwas amüsiert. »Ist das eine dienstliche Frage?«
»Privat. Sie müssen sie nicht beantworten«, versichert er.
»Mit dem Automobil. Mit Kutschen. Am liebsten jedoch auf dem Rücken eines Pferdes.«
»Ein behütetes Elternhaus.«
»Ein behütetes Haus. Ich weiß, was Sie denken.«
»Was denke ich?«, fragt Stave.
»Dass ich aus einem ostelbischen Junkergeschlecht stamme. Dass es Leute wie wir waren, die Deutschland ruiniert haben.«
»Haben Sie?«
Sie stößt wütend den Atem aus. »Wir waren national gesinnt. Konservativ. Aber den Herrn Hitler, den haben wir nie gewählt.«
Der Oberinspektor wundert sich, wen sie mit »wir« meint, wagt aber nicht zu fragen.
»Hier muss ich aussteigen«, sagt Anna von Veckinhausen, als die Straßenbahn mit kreischenden Bremsen neben einer halbhoch stehen gebliebenen, brandschwarzen Hausfassade hält.
Stave begleitet sie, ohne um Erlaubnis zu bitten. Eine gerade Straße durch Schuttberge, aus denen wenige Mauerstümpfe ragen. Gusseiserne, altmodische, blinde Straßenlaternen säumen eine Seite des Weges. Sie allein haben die Verwüstungen überstanden. Stave erinnern sie an grotesk in die Länge gezogene Grabkreuze.
An einer Kreuzung im Schatten des Hochbunkers stehen die Nissenhütten: entlang der vier Straßen errichtete Baracken aus Blech. Zwanzig Nissenhütten zählt der Oberinspektor, aus den winzigen, in die tonnenförmigen Dächer geschnittenen Fenstern flackert da und dort gelboranges Kerzenlicht, andere liegen düster da. Der bittere Gestank nach brennendem, nassem Holz; blauer Qualm, der aus dünnen, verbogenen Blechschornsteinen quillt und als zähe Wolke zwischen den Baracken, den Leinen mit längst vergessener, steifgefrorener Wäsche und den Ruinen schwebt. Ein Geruch nach Kohlsuppe und nassen Schuhen. Ab
Weitere Kostenlose Bücher