Trümmermörder
manche zerknüllt, noch drei Notizhefte. Stave lässt den milchigen Kegel der Taschenlampe kurz hineinleuchten und überfliegt die Papiere. Zahlenkolonnen. Die Zettel sind mit Ziffern bekritzelt. Manchmal nur wenige auf einem Blatt, manchmal mehrere; die Notizhefte sind ebenfalls Zahlenfriedhöfe. Telefonnummern? Kombinationen von Schließfächern? Nirgendwo eine Erläuterung dazu, kein Name, nicht einmal ein Buchstabe.
Unter den Zetteln und Heften ein aktueller Fahrplan der Reichsbahn für alle Besatzungszonen – fast wertlos in diesem Winter, da niemand weiß, wann ein Zug fährt, ja ob überhaupt.
Darunter Landkarten, wie sie in der Wehrmacht ausgegeben wurden. Topographische Karten, großer Maßstab – Norddeutschland, Niedersachsen, Dänemark, die Niederlande, Belgien und Luxemburg, Frankreich, Bayern und Österreich, die Schweiz.
Stave blickt verwundert auf die sorgfältig gefalteten Pläne. Hamburgs Umland ist für einen Kripobeamten sicher interessant. Aber die fremden Staaten? Er zeichnet im Kopf ein Bild: alle Länder nördlich, westlich und südlich der Reichsgrenzen. Maschke war in der Wehrmacht, war auf dem Westfeldzug. Warum hat er ausgerechnet alle seine Landkarten behalten? Warum hat er als U-Boot-Fahrer überhaupt solche Karten bekommen? Stave blättert sie noch einmal durch. Die Pläne sehen unbenutzt aus – bis auf einen, der von Frankreich. Die Faltstellen weiß, Risse am Rand. Er zerrt ihn hervor, breitet ihn vorsichtig auf dem unebenen Schreibtisch aus. Ganz Frankreich, eine Karte so groß wie die Tischplatte.
Mit Bleistift hineingekritzelte Notizen. Militärische Symbole, Buchstaben und Ziffern, offenbar Kürzel für Einheiten. Daneben Daten. Manche Einträge ausradiert und überschrieben, manchmal hastig durchgestrichen und darüber korrigiert.
Das Bild eines Rückzugs.
Die ältesten Notizen beginnen am 1. Juni 1944 links fast an der Atlantikküste, nordöstlich von Bordeaux. Dann eine Linie hoch nach Norden in die Normandie. Die Invasion der Alliierten, denkt Stave. Dann immer nur nach Osten. Der letzte Eintrag, Ende November 1944, bei Straßburg.
Als der Oberinspektor die Karte wieder zusammenfaltet, fällt der Strahl der Taschenlampe auf die Rückseite der Blätter. Ein halb verwischter amtlicher Stempel aus dem Reich: Adler und Hakenkreuz, darunter Schriftzüge in Fraktur. Stave will den Plan schon wieder zwischen die anderen schieben, als er stutzt – da ist noch ein Zeichen im Stempel. Die beiden Runen der SS.
Er legt die Karte unter die Taschenlampe, entziffert mühsam die von Fingerabdrücken verwischten, von Regentropfen an einigen Stellen zerlaufenen Buchstaben unter den Zeichen: 3. Komp. I. Bat. SS-Panzergrenadier Regiment ›Der Führer‹.
Und darunter, in Bleistift und fast unleserlich, ein Name: «Hans Herthge«. In Maschkes Schrift.
Stave hat keine Zeit, über seinen Fund nachzudenken. Denn plötzlich hört er etwas vom Gang draußen.
Schritte.
Dem Oberinspektor bleiben zwei Sekunden zum Nachdenken. Wahrscheinlich wird der Unbekannte vorbeigehen. Aber wenn nicht? Soll man ihn hier mit Taschenlampe am Schreibtisch eines Kollegen entdecken? Soll er sich verstecken? Aber wo?
Frechheit siegt, denkt Stave. Er wirft die Schublade zu, stopft den Frankreich-Plan und seine Handschuhe in die Manteltasche, knippst die Taschenlampe aus und schaltet die Schreibtischlampe an. Wenn man ihn schon sieht, dann so, als habe er nichts zu verbergen.
Die Schritte werden lauter, dann Stille. Jemand steht direkt vor der Tür. Stave beugt sich über die Papiere auf dem Schreibtisch und tut so, als würde er etwas suchen.
Die Klinke wird heruntergedrückt, vorsichtig. Der Oberinspektor blickt auf. Staatsanwalt Ehrlich.
Die Männer mustern sich eine Sekunde lang, beide peinlich berührt.
»Guten Abend«, sagt Stave schließlich, der sich als Erster fängt. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Habe ich mich im Flur geirrt?«, erwidert der Staatsanwalt. »Ich dachte, dies sei das Büro von Herrn Maschke.«
»Punktgenaue Landung. Mein Kollege hat jedoch schon Feierabend gemacht.«
»Und Sie sind zur Sitte versetzt worden?« Der Staatsanwalt mustert ihn verwundert.
Stave hatte ein paar Augenblicke Zeit, sich eine Geschichte zurechtzulegen. »Maschke soll ab morgen Chirurgen abklappern, die Operationen vorgenommen haben, wie die beim vierten Opfer. Ich hatte ihn schon einmal zu Ärzten geschickt. Die Prothesen, der Leistenbruch, Sie erinnern sich? Ich frage mich, ob es wohl Mediziner
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