Trümmermörder
gibt, die bei Männern Leistenbrüche operieren und bei Frauen Unterleibsoperationen durchführen. Falls die Opfer doch zur selben Familie gehören, wäre das doch ein Ansatz. Weil Maschke schon ausgeflogen ist, suche ich bei ihm.« Er deutet entschuldigend auf die Papierberge vor sich. »Aber ich befürchte, ich muss doch morgen mit ihm reden.«
Ehrlich blickt ihn einen Moment lang skeptisch an, lächelt dann und nickt. »Verstehe«, murmelt er. Es klingt, als verstünde er nichts. »Dann muss ich wohl ebenfalls warten, bis ich den Polizeiinspektor sprechen kann. Schade.«
Der Staatsanwalt deutet eine Verbeugung an, dann zieht er die Tür wieder hinter sich zu. Schritte auf dem Gang, leiser werdend.
Stave atmet tief durch. Kalter Schweiß perlt ihm zwischen den Schulterblättern den Rücken hinab. Ob Ehrlich ihm die Geschichte abnimmt? Ob er mit Maschke über dieses unverhoffte Treffen reden wird? Er muss nun auf jeden Fall mit dem Beamten von der Sitte die idiotische Vermutung mit den Chirurgen durchsprechen, um seine Tarngeschichte aufrechtzuerhalten.
Er wartet noch ein paar Minuten, bis er sicher ist, dass Ehrlich verschwunden ist. Schiebt die Papiere wieder zurecht. Zögert, ob er auch die Frankreichkarte zurücklegen soll, entscheidet sich dann aber dafür, sie zu behalten. Vorläufig. Mal sehen, was es mit »Hans Herthge« auf sich hat.
Er knipst das Licht aus, tritt auf den Flur, eilt aus dem dunklen Haus. Erst draußen, auf dem zugigen Platz, fällt Stave auf, dass Ehrlich ihm nicht verraten hat, was er eigentlich zu so später Stunde in Maschkes Büro wollte.
Düstere Straßen, Ruinen wie Spukschlösser, irgendwo röhrt der Motor eines britischen Jeeps; ein steifgefrorener Vorhang, halb aus dem Ziegelschutt herausgeweht, klappert im Wind, sonst lastende Stille. Stave hat sich in den letzten Jahren so sehr an den Anblick der verwüsteten Stadt gewöhnt, dass er kaum je darüber nachdenkt. Doch als er nun nach Hause eilt, fühlt er sich unbehaglich, unsicher. Bedroht.
Zuckende Schatten in Fensterhöhlen. Umrisse vor gehäuteten Wänden. Leichen? Oder ein Mörder, der geduckt im Versteck auf einen nächtlichen Wanderer lauert? Ich werde paranoid, denkt der Oberinspektor mal wieder.
Stave ertappt sich dabei, dass auch er mitten auf der Straße geht – so weit entfernt von den Trümmergrundstücken wie nur möglich. Ein Kitzeln zwischen den Schulterblättern, als beobachte ihn jemand. Er fährt herum. Nichts.
Und doch bleibt das Gefühl, nicht allein zu sein.
Er greift nach seiner Pistole, legt den Sicherungshebel der FN 22 um, geht schneller, trotz der Schmerzen im linken Bein. Der Weg scheint endlos zu sein.
Als Stave endlich vor seinem Haus angekommen ist, nimmt er in der dunklen Treppe zwei Stufen auf einmal, fingert am Schloss herum, wirft die Wohnungstür hinter sich zu. Sein Herz rast, die Haut ist nass, der Atem rasselt.
Ich benehme mich wie ein Idiot, denkt er, wie ein Anfänger. Wenn jemand auf mich zugekommen wäre, um mich nach der Uhrzeit zu fragen, ich hätte ihn vor Angst erschossen. Er wartet, bis seine Hand nicht mehr zittert, sichert dann die FN 22 und steckt sie in das Holster zurück. Muss mehr schlafen, sagt er sich, mich endlich einmal richtig durchwärmen. Wenn dieser Frost nur endlich aufhören würde! Zugleich fürchtet er sich davor. Vor auftauenden, stinkenden Leichen.
Er bereitet sein Abendessen zu: Brot, das nach Papier schmeckt, dünner Käse, Wasser, eine matschige Kartoffel, die er nach einer Stunde auf der Brennhexe halbgar hinunterschlingt. Dann wartet er ausgestreckt auf den Schlaf, liegt wie ein Toter auf dem Bett, regungslos. Müdigkeit, die vier Zentner wiegt. Doch irgendetwas in seinem Kopf weigert sich, ins Traumland zu gleiten.
Stave tastet sich schließlich zum Radio. Gelblicher Glanz aus dem alten Kasten, als die Röhren warm werden. Er hat seit Monaten nichts mehr gehört. In der braunen Zeit die dröhnenden Klänge von Liszt und dann: »Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt!« Die sich überschlagenden Stimmen von Hitler oder Goebbels und dazwischen, rauschend wie ein Hagelschauer am Fenster, der Chor der »Heil«-Rufer in irgendeinem Sportpalast. Wagnermusik. Er war dessen schließlich so überdrüssig, dass er lieber gar nichts mehr einschaltete als das. Es gab Kollegen und Nachbarn, von denen er wusste, dass sie heimlich BBC lauschten, aber das hatte er nie gewagt.
Heute jedoch soll ein neuer Sender erstmals ausstrahlen: Nordwestdeutscher
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