Trümmermörder
überhaupt um?
Stave könnte seinen Kopf gegen die Wand hämmern vor Zorn – Zorn über den Mörder, über seine eigene Unfähigkeit, über die Kollegen, die ihn im Stich lassen, ihre privaten Dramen inszenieren oder sogar seine Arbeit sabotieren.
Es ist inzwischen nach 18 Uhr. Das Vorzimmer ist leer, auf dem Flur ist es still. Wenn ich mit den einen Ermittlungen nicht weiterkomme, denkt Stave, dann ist es Zeit, dass ich mich den anderen zuwende. Den heimlichen.
Er verlässt sein Zimmer, geht langsam den düsteren Gang hinunter, späht unauffällig in die Büros, deren Türen nicht verschlossen sind. Ruhiger Abend. Stave erreicht das Treppenhaus, geht zwei Stockwerke abwärts, hält inne. Bis dahin müsste jeder, der ihn beobachtet, denken, dass er nach Hause geht. Erst jetzt wagt er sich auf fremdes Terrain. Der Oberinspektor atmet tief durch, drückt dann eine Tür auf und betritt den Flur des Sittendezernats.
Ein Gang und Bürotüren zu beiden Seiten, wie bei der Mordkommission. Nirgendwo brennt Licht. Im Halbdunkel eilt er den Flur entlang, überfliegt die Schilder neben den Türen.
Polizeiinspektor Lothar Maschke.
Blicke zu beiden Seiten, dann drückt er die Klinke herunter.
Unverschlossen.
Stave schlüpft lautlos hinein, schließt rasch die Tür. Sein Herz rast. Er hat in seinem ganzen Leben kaum je etwas Verbotenes getan und jetzt das: der Einbruch bei einem Kollegen.
Er fingert eine Taschenlampe aus der Manteltasche, knipst sie an, blickt sich um. Kein Vorzimmer, ein winziges Büro, schmuddeliger Eindruck. Ein Gebirge aus Berichten, Polizeifotos, Notizheften, leeren Lucky-Strike-Schachteln auf dem Schreibtisch. Überquellender Aschenbecher. Ein Stuhl, weggeschoben vom Tisch, nicht ordentlich an die Kante gerückt. An einer Wand ein Stadtplan von Hamburg, schief angepinnt mit rostigen Heftzwecken. Mit vier Bleistiftkreuzen sind dort die Fundorte markiert. An einer anderen Wand das Zeugnis der Polizeischule, nicht gerahmt, auch etwas schief.
Stave tritt näher, sieht sich den Schreibtisch genauer an, berührt jedoch noch nichts. Ein gerahmtes Foto: eine ernst dreinblickende, ältere Dame. Der Oberinspektor erinnert sich, dass sein Kollege noch bei seiner Mutter wohnt. Sonst nichts Persönliches. Das Durcheinander auf der Schreibtischplatte – papierner Niederschlag der Mordermittlungen: Kopien von Obduktionsberichten, Bilder des Polizeifotografen, Listen von Chirurgen und Zahnärzten.
Keine Akten.
Stave streift sich dünne, schwarze Lederhandschuhe über, dann zerlegt er sorgfältig die Papierberge, darauf achtend, dass er sie anschließend exakt wieder so zusammenschiebt, wie sie vorher waren. Wer weiß, ob Maschkes scheinbares Chaos nicht doch Methode hat?
Nichts.
Dann noch die Schreibtischschubladen, zwei zu jeder Seite. Links oben: Zigaretten, Feuerzeuge. Stave hebt die Augenbrauen. Ziemlich viele für das Gehalt eines Polizeiinspektors. Entweder lässt der Kollege seinen halben Lohn in Rauch aufgehen oder er hat Quellen, die ein Kripobeamter nicht haben sollte.
Links unten, eine tiefe Schublade: Karteikarten, manche mit Fotos. Stave fischt einige heraus, studiert sie. Aufgeklebte Polizeifotos, wie sie zur Identifikation von Verbrechern gemacht werden, daneben Namen. Auf der Rückseite, in Maschkes Schülerschrift, Notizen:
»Rufnamen: Lena oder die Dänin.«
»Trägt Messer versteckt an jedem Fußknöchel.«
»Mädchen von Willy Warncke (Dicker Willy).«
»Yvonne Delluc, hat Familie hier.«
»Achtung: Isabelle beliebt bei britischen Offizieren. Nicht zu hart anfassen.«
»Verhaftet Schwarzmarkt 5.1.47 mit 1 Paar Nylonstrümpfen, 20 Zigaretten.«
Der Oberinspektor blättert rasch durch den Stapel: Huren, Luden, Huren, Luden. Keine Freier. Erstaunlich, wie viele seiner Kunden Maschke in der kurzen Zeit, die er seit seinem Abschluss bei der Sitte ist, schon klassifiziert hat.
Die Karteikarten liegen ohne erkennbare Ordnung aufeinander, doch Stave vermutet, dass Maschke genau weiß, wo welche Karte steckt. Hinter dessen Schluderigkeit versteckt sich System, denkt er.
Rechte obere Schublade: Bleistifte, ein beschädigter Anspitzer, zerfledderte Notizhefte – leer, oft sind viele Seiten herausgerissen. Es sind mehr oder weniger vollgeschriebene Kladden, die Maschke offenbar wiederverwenden will. Daneben bröselige Radiergummis, zwei verbogene Büroklammern, ein paar angerostete Heftzwecken, Tabakkrümel.
Rechte untere Schublade, so tief wie die gegenüber: etwa ein Dutzend Zettel,
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