Trümmermörder
MacDonald – hat mich gewarnt: Er glaubt, dass Sie uns ertappt haben.«
»Sie haben nichts getan, bei dem ich Sie hätte ertappen können.«
»Vielen Dank für diese freundliche Lüge. Herr MacDonald und ich sind uns in den letzten Wochen nähergekommen.«
»Das ist kein Verbrechen.«
»Wenn man eine verheiratete Frau ist, ein Kind erwartet und plötzlich der Ehemann wiederkehrt, dann wohl schon.«
Jetzt setzt sich Stave auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch. »Turbulente Tage«, murmelt er.
»Sehen Sie: Ich dachte, dass ich Witwe bin. Mein Mann wurde vermisst. Keine Nachricht, kein Lebenszeichen, seit Jahren. Sie kennen das ja.« Sie wird dunkelrot, blickt zu Boden. »Dann kam da plötzlich Lieutenant MacDonald in Ihr Büro. Wir sprachen miteinander, wir waren beide allein, ungebunden, eines kam zum anderen. Dass ich so rasch schwanger wurde, war nicht geplant. Aber wir wollen das Kind. Wir träumen von einer gemeinsamen Zukunft. Auch mit meinem Sohn, den Herr MacDonald annehmen will. Wir wollen nach England ziehen, irgendwann. Weg von all diesen Trümmern.« Sie schlägt die Hände vors Gesicht. »Und dann klopft es vor zwei Tagen an meiner Wohnungstür. Ich denke, dass es James ist, bin überrascht, freue mich, reiße die Tür auf – und vor mir steht mein Mann. Oder das, was von ihm noch übrig geblieben ist. Ein dünner Schatten. Einbeinig. Und dieser Blick in den Augen, verloren, hilflos und zugleich irgendwie brutal.«
Ein Weinkrampf. Stave wartet, bis sie sich wieder etwas beruhigt hat. Er ist froh, dass sie ihn in diesem Augenblick nicht anblickt. Neid und Wut durchströmen ihn wie Galle. Neid, weil ihr verloren geglaubter Mann plötzlich da ist, während sein Sohn spurlos verschwunden bleibt. Und Wut, weil sie sich über dieses Wunder nicht einmal freuen kann.
»Ahnt Ihr Mann etwas von Ihren«, er sucht nach dem passenden Ausdruck, findet keinen und endet lahm mit »Schwierigkeiten?«
Sie schüttelt den Kopf. »James und ich treffen uns vorläufig nicht außerhalb des Dienstes. Auch für ihn ist das ein Schock. Aber meinen Zustand kann ich nicht ewig verheimlichen. Zumal ich ja später nicht einmal behaupten könnte, dass das Kind von meinem Mann ist. Denn ich kann einfach nicht, Sie verstehen.«
Stave versteht nur zu gut. Ein Mann, der ein Bein irgendwo in Russland gelassen hat und als Krüppel zu seiner jungen Gattin zurückkehrt. Einer Frau, die vor Entsetzen die Augen aufreißt, als er bei ihr anklopft. Und die nachts im Bett von ihm wegrückt, als hätte er Aussatz. Ob auch sein kleiner Sohn ihn meidet, den fast fremden Mann mit der Entstellung?
»Was wollen Sie tun?«
Sie strafft sich plötzlich, quält ein Lächeln auf ihr Gesicht. »Zunächst einmal alle diese Briefe schreiben, Herr Oberinspektor«, sagt sie.
Stave springt auf. »Selbstverständlich geht mich das nichts an«, murmelt er. »Verzeihen Sie die Frage.«
Er geht wieder in sein Büro und schließt die Tür.
Stave betrachtet seinen Stadtplan mit den vier roten Nadeln darauf. Drei Fundorte im Osten, einer im Westen. Die drei Stellen östlich der Alster liegen letztlich kaum eine Viertelstunde Fußmarsch auseinander. Zur Lappenbergsallee jedoch ist jeder dieser Plätze mindestens eine Stunde Wegstrecke entfernt.
Es sei denn, der Täter führe ein Auto oder einen Lastwagen.
Stave durchdenkt diese Option. Das würde auf einen der wenigen Deutschen mit Sondergenehmigung hindeuten. Oder auf einen Briten. Andererseits: Sind Motorfahrzeuge nicht ein auffälliger Anblick? Und keiner der vier Fundorte könnte direkt mit einem Auto angesteuert werden – man müsste die Leichen irgendwie vom Fahrzeug an der nächsten Straße bis zu ihren Verstecken geschafft haben. Tagsüber praktisch unmöglich, dass das unbeobachtet stattfinden könnte. Und nachts? Da wäre ein Auto noch viel auffälliger, denn die Briten fahren kaum zur dunklen Stunde, den Deutschen ist es ausdrücklich verboten.
Verdammt, denkt Stave, will denn nichts zusammenpassen? Irgendwo hakt es immer, irgendein Detail passt nie ins Bild. Er denkt an die letzte Obduktion. Warum sollte ein Mörder, der so beutegierig ist, dass er der Frau sogar den Schlüpfer abnimmt, ihr ausgerechnet die Goldzähne lassen? Für Gold kann man auf dem Schwarzmarkt alles haben.
Verwischt er also mit dem Ausplündern bloß Spuren? Aber wenn er seine Opfer nicht ausraubt, sich nicht an ihnen vergeht, er auch keinen familiären Groll gegen sie hegt – warum bringt er sie dann
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