Trugschluss
erscheinen, wie er auf den Ansichtskarten an der
Uferpromenade abgebildet war. Jens Vollmer blickte aus dem Fenster eines
winzigen Appartements, das sich in einem jener Altstadthäuser befand, die die
engen, steil zum Bahnhof hinaufführenden Gässchen säumten. Nie hätte er
gedacht, dass ihn diese junge Frau so faszinieren würde. Lange hatten sie in
der Pizzeria gestern Abend noch herumgealbert, waren sich näher gekommen und
noch in eine kleine Bar gegangen. Mit jedem Cocktail, den sie tranken,
verflogen bei dem jungen Mann die Vorbehalte, die er dem Mädchen anfangs entgegengebracht
hatte. Sie war unkompliziert und humorvoll und schaffte es innerhalb weniger
Stunden, ihm seine Hemmungen zu nehmen, die ihm von seinem provinziellen
Elternhaus her mitgegeben worden waren.
Als sie kurz vor eins die Bar verließen
und in der frischen März-Nacht standen, hatte sie ihm ohne zu zögern
vorgeschlagen, doch noch zu einem kurzen Drink zu ihr zu gehen, zumal sie es
nicht verantworten könne, ihn jetzt in dieser fremden Stadt allein zu lassen.
Er willigte mit pochendem Herzen ein und folgte ihr nur wenige Seitengassen
aufwärts zu dem Mietshaus, das dem mediterranen Stil der Umgebung entsprach.
Sie tranken noch ein Gläschen Wein,
plauderten über Gott und die Welt, nur nicht über den Job, und rückten auf der
weißen Ledercouch näher aneinander. Claudia hatte eine CD mit klassischer Musik
aufgelegt und zwei Kerzen angezündet. Als sie kurz nach draußen verschwand und
wieder kam, war Vollmer für einen Moment sprachlos. Die junge Frau war in einen
superkurzen schwarzen Lederrock geschlüpft, sodass sich im flackernden
Kerzenlicht die helle Haut ihrer Beine faszinierend von dem dunklen Hintergrund
abhob. »Hey«, hauchte sie lächelnd und blickte ihn aus ihren großen dunklen
Augen an, in denen das Kerzenlicht funkelte. »Wie findest du mich?« Er war einen
Augenblick lang atemlos, während sie stolz auf ihn zuging und sich neben ihn
auf die Couch setzte. »Du wolltest doch die Schönheiten des Tessins kennen
lernen, stimmt’s?«, sagte sie kess, nahm das Weinglas und ermunterte ihn, mit
ihr anzustoßen.
Er lächelte. »Die Schönheiten des Tessins
– wie recht du hast.«
Nachdem sie getrunken hatten, umarmten sie
sich. Er gab ihrem sanften Druck nach und ließ seinen Oberkörper auf die weiche
Couch sinken. Ihre langen schwarzen Haare berührten sein Gesicht, er spürte
ihren heißen Atem.
Es war, wie Vollmer jetzt, am Morgen
danach, beim Blick aus dem Fenster zu den Ziegel gedeckten Dächern der
Altstadthäuschen zufrieden feststellte, eine traumhafte Nacht gewesen. Während
Claudia im Bad war, versuchte der junge Mann, seine Gedanken zu sortieren. So
etwas hatte er noch nie erlebt. Der Frau war es gelungen, ihn zu faszinieren
und ihn alle Probleme vergessen zu lassen. Alles, was mit seiner beruflichen
Zukunft zusammenhing, war mit einem Mal unwichtig geworden. Jetzt aber begann
sich die Realität mehr und mehr wieder in den Vordergrund zu drängen. Nur eine
einzige Frage hatte er ihr gestern zu Armstrong noch gestellt – und die
Antwort, die sie ihm in weinseliger Stimmung gab, war aufregend und merkwürdig
zugleich gewesen: »Es gibt Menschen, die immer einen Schritt weiter sind, als
andere. Und manchmal ist das, was Einzelne tun, ein großer Schritt für die
Menschheit.« Dann hatte sie eine Pause eingelegt, um ihn zu ermuntern: »Geh
diesen Schritt mit und du wirst es niemals bereuen.«
Was sie da mit dem Schritt gesagt hatte,
das wusste Vollmer, war ein abgewandeltes Zitat von Armstrongs Namensvetter,
der im Juli 1969 als Erster den Mond betreten hatte …
Es war kurz vor elf, als bei der Geislinger Kriminalpolizei ein
erstes Ergebnis der Ulmer Gerichtsmediziner vorlag, die die verkohlten
Leichenteile untersucht hatten.
Häberle trommelte seine Kollegen wieder
zusammen. Auch Walda und die anderen Beamten, die in Hohenstadt ermittelt
hatten, waren inzwischen zurückgekehrt. Sie hatten sich nur einige wenige
Stunden Schlaf gegönnt. Die Männer lehnten an den Schreibtischen, auf denen
sich bereits Akten stapelten, oder sie blieben an der offenen Tür stehen.
Häberle, der stets einen optimistischen Gesichtsausdruck hatte, lächelte allen
freundlich zu und erklärte: »So wie’s aussieht, haben wir’s mit einer
männlichen Person zu tun, einer jüngeren vermutlich. Den Knochen nach zu
urteilen, dürfte sie zwischen 25 und maximal 40 Jahre alt sein. Irgendwelche
Hinweise auf Fremdeinwirkungen vor dem
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