Trugschluss
Meter
links oder rechts, eine halbe Sekunde früher oder später – und nichts passiert.
Außer vielleicht ein paar Turbulenzen. Nein, Winnie, die treffen sich
punktgenau. Und nichts hat das Schreckliche verhindern können. In Karlsruhe
haben andere Lotsen das Unheil kommen sehen – doch dann ging in dieser Nacht
das Telefon im Züricher Tower nicht. Und als der Lotse dort bemerkt hat, was
los war, gab er die falschen Ausweichbefehle. Stell dir das vor! Wann werden
schon nachts Telefone gewartet und abgeschaltet? Alle paar Jahre mal
vielleicht. Und dann rasen ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt zwei Flugzeuge auf
einen gemeinsamen Punkt zu! Ist das noch Zufall? Oder musste das einfach sein?«
Winnie nickte betreten.
Jörg versuchte wieder den Bogen zum
Ausgangspunkt zu spannen: »Ich sag dir, Winnie: Da sind Kräfte am Werk, von
denen können wir uns kein Bild machen.«
»Dein … Gott?«, fragte Winnie vorsichtig.
Jörg nahm wieder einen Schluck Bier. »Was
heißt da, mein Gott? Wenn’s einen gibt, dann ist es unser aller Gott. Ob wir
ihn nun Jesus oder Allah, Buddha oder was weiß ich wie nennen. Aber schon
daran, dass sich die Menschheit des richtigen Gottes wegen totschlägt, magst du
erkennen, dass alles nicht so einfach ist, wie es uns die Herren Pfarrer
manchmal suggerieren wollen.«
Winnie nickte. Ihm fiel plötzlich der
katholische Pfarrer ein, der ihn als Schulbub immer an den Haaren gezogen und
ins Genick geschlagen hatte, bloß weil er manchmal nicht zum
Schülergottesdienst erschienen war. Das hatte ihm den Kirchgang ziemlich
vergällt.
»Die Bibel«, begann Jörg wieder, »sie
spricht in Bildern. Das ist auch logisch. Wir müssen uns in die Mentalität der
Menschen von vor zweitausend Jahren zurückversetzen. Keine Medien. Das normale
Volk wenig gebildet. Was also bleibt anderes übrig, als die Geschichten
vereinfacht darzustellen? Außerdem wurde das Geschehen jahrzehntelang nur
mündlich überliefert. Da kannst du dir vorstellen, wie sich manches verändert
und verklärt hat. Absolut sicher dürfte nur eines sein: Dass da etwas war. Nur
ob man da so viel Zeremonien drumrum machen muss, das ist eine ganz andere
Frage.« Der Theologe runzelte die Stirn. »An dieser Feststellung wirst du
erkennen, weshalb ich mich anderen Aufgaben zugewandt habe. Und nun auf meine
Weise versuche, den sogenannten modernen Menschen dieses Universum, diese
Allmacht, dieses gigantische System nahezubringen – hinter dem eine Kraft
stehen muss. Das ist ganz außer Zweifel. Wir können sie Gott nennen.«
Winnie war von diesen Überlegungen
angetan. »Dieser Betrachtungsweise kann man zustimmen«, sagte er.
Jörg lächelte wieder. »Und deshalb hält
uns das Universum endlos viele Rätsel bereit, die wir mit unserem begrenzten
Verstand nie verstehen werden. Ist ja auch logisch: Die Maschine kann niemals
schlauer sein, als der, der sie erfunden hat. Beim Menschen ist das nicht
anders. Vergleichen wir unser Gehirn mit einem Computer: Es hat nicht nur einen
begrenzten Arbeitsspeicher, sondern ihm stehen auch nur ein paar Programme zur
Verfügung, mit denen er die Welt betrachten kann. Manche Datei kann er einfach
nicht öffnen. Vielleicht jene, die ihm den Einblick in ganz andere Dimensionen
ermöglichen könnten. Ich will damit sagen: Nicht alles, was wir für unmöglich
halten, muss es zwangsläufig nicht geben. Wir halten es nur deshalb für
unmöglich, weil es nicht in unser physikalisches oder chemisches Weltbild
passt.« Jörg holte tief Luft. »Einstein war ein kluger Kopf, eine absolute
Ausnahmeerscheinung, vielleicht sogar – um in der Computersprache zu bleiben –
mit ein paar Programmen mehr im Kopf. Seine Kernaussage ist, die
Lichtgeschwindigkeit setze uns eine nicht überwindbare Grenze. Würde man sich
nämlich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, bliebe die Zeit stehen – eine
Aussage, die einem Laien allein schon haarsträubend vorkommt. Aber es kommt
noch schlimmer: Würde man die Lichtgeschwindigkeit überschreiten, kämen Ursache
und Wirkung durcheinander – die Zukunft fände vor der Vergangenheit statt.«
Winnie runzelte die Stirn. »Das ist mir zu
viel Sciencefiction, um ehrlich zu sein.«
Jörg nickte. »Ich will dich nicht
überstrapazieren. Aber das sind reale Überlegungen eines großen Denkers. Siehst
du jetzt: Die Welt besteht nicht nur aus Bilanzen und Umsätzen. Aber die
meisten Menschen leben nur in den Tag hinein, ohne auch nur im Entferntesten zu
erkennen, welchem gigantischen System
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