Trugschluss
Oktober-Abend nun geschafft hatten,
wieder mal gemeinsam mit Anja, der Freundin von Joe, durch den großen Park zu
bummeln, stimmte ihn geradezu versöhnlich. Die Tage waren bereits merklich
kürzer geworden, jetzt, um acht, brannten die Lichter. Noch immer aber lag die
mediterrane Wärme in der Luft, während sie unter den alten Bäumen, deren
Blätter sich verfärbt hatten, an dem ruhigen See entlanggingen. Sie alberten
und lachten und machten sich über Touristen lustig. Jens und Claudia
schmiedeten Pläne, was sie einmal mit dem vielen Geld tun würden, das schon
jetzt auf ihren Konten lag. Anja wusste von Joe, wie gut die Arbeit bei
Armstrong dotiert war. Offenbar hatte er ihr von einem traumhaften Anwesen
direkt an der San Francisco Bay vorgeschwärmt. Doch bei aller Freude auf ein
Leben in Saus und Braus drüben in den Staaten, war sie im Grunde ihres Herzens
Schweizerin, zwar eine aus dem Süden und mit entsprechendem Temperament im
Blut, doch hatte sie den Sinn für die Realität nicht verloren. Dafür sorgte
schon ihr Studium, bei dem sie gelernt hatte, dass nicht alles Gold war, was so
sehr glänzte.
Als sie jenen Punkt vom Park erreicht
hatten, wo der Fluss Cassarate in den See mündet, lehnten sie sich an das
Geländer. Anjas Stimmung war irgendwie umgeschlagen, glaubte Jens zu spüren.
Sie konnte ohnehin sehr melancholisch und nachdenklich werden, das war ihm in
den letzten Monaten immer häufiger bewusst geworden.
»Eure Arbeit dort«, begann sie, nachdem
sie sich vergewissert hatte, dass sie keine ungebetenen Zuhörer haben würden, »mich
ängstigt sie.«
Jens und Claudia, die rückwärts an die
Ufergeländer lehnten, blickten Anja ins Gesicht, die vor ihnen auf den dunklen
See hinausblickte, auf dem sich die Lichter von Paradiso spiegelten.
Sie schwiegen und warteten, was Anja sagen
wollte.
»In den vergangenen Monaten ist so viel
geschehen«, sagte sie, »sehr viel. Und bei allem, was ich gesehen, gelesen und
gehört habe, musste ich an eure Arbeit denken. Ich hab mit Joe nächtelang
darüber diskutiert, doch ihm gelingt es immer wieder, mir meine Bedenken zu
zerstreuen.« Wieder wartete sie, doch ihre beiden Freunde blieben stumm.
Anja ging die paar Schritte an das
Geländer hinüber und umklammerte es fest mit beiden Händen. Sie sah das
Blinklicht des Antennenmasts auf dem San Salvatore.
»Es ist so viel passiert«, wiederholte
sie, während sie langsam nickte, »so verdammt viel.« Jens überlegte, verstand
aber nicht so recht, was sie meinte. Er wollte vorsichtig nachhaken: »Wie
meinst du das denn?«
»Flugzeuge sind abgestürzt, das
Spaceshuttle ist verglüht – und jetzt diese Stromausfälle überall. Das hat es
bisher nie gegeben. Außer vielleicht mal in den Sechzigern in New York – das
war genauso geheimnisvoll damals, hab ich im Internet nachgelesen.«
Die drei jungen Menschen schwiegen sich
an. Jens legte einen Arm um Claudias Schulter, die jedoch, das glaubte er für
einen Augenblick zu spüren, zurückweichen wollte. Doch möglicherweise war’s
nur, weil sie Anja etwas entgegnen wollte: »Vielleicht«, so sagte sie leise und
irgendwie einfühlsam, »vielleicht interpretierst du in die Dinge viel zu viel
hinein.«
»Mag sein«, erwiderte Anja und drehte
ihren Kopf zu ihr, »aber ich hab mich intensiv damit auseinander gesetzt.«
»Wie meinst du das?«, wollte Jens wissen.
»Vor einem halben Jahr ist die ›Columbia‹,
eine Hightech-Maschine, verglüht am Himmel über Amerika …« Anja schaute noch
immer über den See hinweg. »Verloren, einfach verloren.«
Jetzt schaltete sich Claudia ein und zog
Jens ein paar Schritte näher zu Anja hinüber. »Die NASA hat erst kürzlich einen
Bericht vorgelegt, der die Unfallursache eindeutig klärt. Beim Start ist ein
Stück Isolier-Schaumstoff abgerissen und hat ein Loch in den linken Flügel
geschlagen.«
»Ich kenne die offiziellen Versionen alle,
Claudia. Ich hab sie alle studiert. Und dabei ist mir auch aufgefallen, dass
die Zahl › eins‹ oder ›elf‹ eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat.« Claudia
erinnerte sich schlagartig, dass Anja eine esoterische Ader hatte. Bei ihren
nächtelangen Gesprächen auf der Terrasse von dem Lokal in Morcote waren sie oft
auf Themen gestoßen, die auf schicksalhafte Hintergründe schließen ließen –
zumindest, wenn es nach Anja ging. Joe und Jens hatten sich meist vehement
gegen die These gewehrt, dass hinter allem eine unsichtbare Macht die Fäden
zieht. Anja hingegen war von
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