Trugschluss
Verwaltungsbeamten, die an der Stirnseite des
Sitzungssaales auf leicht erhöhtem Podest thronten. Sie schienen geradezu
darauf trainiert zu sein, stets dann, wenn die Kommunalpolitiker abzuschlaffen
begannen, zur Höchstform aufzulaufen. Dann nämlich gelang es, heikle Themen
durchzupeitschen. Ein versierter Sitzungsleiter, wie der Landrat es war,
platzierte deshalb seine Tagesordnungspunkte mit Bedacht.
Bruno Blühm, ein Berufsleben lang Lehrer
gewesen und seit den vorletzten Sommerferien pensioniert, hatte 1999 für die
Konservativen zum Kreistag kandidiert – und dies gleich mit Erfolg. Jetzt
gehörte er dem Gremium seit der letzten Wahl an. Eigentlich hatte er gehofft,
sein Wissen als Pädagoge und engagierter Naturwissenschaftler einbringen zu
können – doch schon nach wenigen Sitzungen war ihm klar geworden, dass sogar
auf dieser parlamentarischen Ebene meist nur Parteisüppchen gekocht und
ideologische Standpunkte vertreten wurden.
Er schaute zum wiederholten Mal auf seine
Armbanduhr. Es war kurz vor 19 Uhr – und draußen schon stockfinstre Nacht.
Bruno Blühm, noch keine 65 Jahre alt, das Haar schneeweiß und meist ein
bisschen ungekämmt, ließ seine Gedanken schweifen. Er fühlte sich noch viel zu
jung und agil, als dass er seine Zeit diesem Parteiengezänk opfern wollte.
Seiner Frau, die mit ihm die Begeisterung an der Natur teilte, pflegte er immer
zu sagen: »Mein Gott, es gibt doch wichtigere Dinge auf diesem Planeten, als
sich um so einen Kleinkäs’ zu streiten.«
Nun saß er da, fühlte, wie die kostbare
Zeit zerfloss. Dazu noch eingezwängt in die viel zu enge Reihe kleiner Tische,
von denen sich jeweils zwei Kreisräte einen teilen mussten. Der Saal versprühte
den herben Charme der späten 60er-Jahre. Klobiges Mobiliar, die Wand war dunkel
vertäfelt.
Bruno Blühm, der im Alter rundlich
geworden war und damit noch gemütlicher und ruhiger wirkte, als zu früheren
Zeiten, hasste diese Statements und parteipolitischen Besserwisser. Wenn dann,
was durchaus vorkam, die Diskussion auf Stammtisch-Niveau abgesunken war, egal,
ob im Kreistag oder wie etwa bei den unseligen Fernseh-Talk-Shows, die er beim
abendlichen Zappen durch die Kanäle so sehr verabscheute, dann bekam seine Frau
regelmäßig seinen Lieblingssatz zu hören, den er ganzen Schülergenerationen,
wenngleich aus jeweils unterschiedlichen Gründen, an den Kopf geworfen hatte: »Die
Verdummung des Volkes schreitet unaufhaltsam vorwärts.«
Er griff plötzlich ruckartig und geradezu
theatralisch in die Innentasche seines Jacketts, wo er sein Handy verwahrte,
das während der Sitzungen auf Vibrieren gestellt war. Er holte es heraus,
blickte auf das Display und drückte eine Taste. Dann führte er es ans linke Ohr
und sagte mit gedämpfter Stimme, um den Sitzungsverlauf nicht zu stören: »Augenblick,
bitte.« Blühm, dessen Nebensitzer bemerkt hatte, dass er ins Handy sprach,
rutschte mit dem Stuhl zur Tischkante vor, um dem Fraktionskollegen das
Hinausgehen zu erleichtern. Der nickte dankend und verließ mit dem Handy am Ohr
den Saal.
Jörg Brobeil, der ehemalige Pfarrer, hatte sich in den vergangenen
Monaten des Brummton-Phänomens angenommen, in Zeitungsarchiven recherchiert und
im Internet allerlei abenteuerliche Thesen gefunden. Am meisten interessierte
ihn, was die Landesanstalt für Umwelt in Karlsruhe vor einem Jahr
veröffentlicht hatte. Mehr als 300 Mitteilungen seien zwischen 1999 und 2000
registriert worden, erfuhr Brobeil. Doch obwohl man in 13 Wohnungen Messungen
vorgenommen habe, könne ›eine gemeinsame Ursache für das Brummton-Phänomen
ausgeschlossen werden‹, las er. Das Umwelt- und Verkehrsministerium von
Baden-Württemberg ließ, so hatte er den Eindruck, ziemlich wortreich
verlautbaren, dass man einerseits die Klagen der betroffenen Bürger ernst
nehme, es aber andererseits keinerlei Ansatzpunkt gebe, irgendwo einzugreifen.
Zwar seien an allen Messorten ›sehr niedrige Geräuschpegel‹ festgestellt
worden, doch bestehe da kein ›immissionsschutzrechtlicher Handlungsbedarf‹.
Brobeil hatte inzwischen mehrere Aktenordner mit Schriftsätzen dieser Art
angelegt.
Jedenfalls war ihm klar geworden, dass die
Menschen, die das Brummen hörten, keinen Hirngespinsten nachjagten. Diese
Einschätzung wurde offenbar auch von den Behörden geteilt. Immerhin hatte sich
voriges Jahr das Nationale Datenzentrum zur Überwachung des
Kernwaffenteststopp-Abkommens der Sache angenommen und im schwäbischen
Blaubeuren
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