Trugschluss
dies bewusst
und spürte ein Stück Gottvertrauen, das ihm auch nach seinem Ausstieg aus der
offiziellen Kirche nicht verloren gegangen war.
Er näherte sich jetzt schneller der
Rückseite des Gebäudes, das sich trotz der Finsternis nun vom Hintergrund
abzuheben begann. Seine Augen hatten sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt. Er
bog um die Ecke und erkannte, ein bisschen erleichtert, dass hinter der großen
Fensterfront des ebenerdig gelegenen Wohnzimmers abgedimmtes Licht brannte.
Brobeil tastete sich heran und erschrak: Die große Scheibe der Terrassentür war
zertrümmert, nur noch wenige Glasstücke hingen im Rahmen, Splitter funkelten im
spärlichen Licht, das aus dem Innern des Raumes fiel. »Lilo«, Brobeil schrie,
so laut er konnte. Doch alles blieb still. Er erreichte mit einem Satz die
Terrasse, hörte das Glas unter seinen Tritten knirschen. Für einen Augenblick
blieb er erneut stehen, orientierte sich und rannte die flachen Stufen zur
Terrasse hinauf. Die Tür, deren Scheibe nahezu ganz fehlte, war nur angelehnt,
der Vorhang beiseite gezogen. Im Licht der abgedimmten Stehlampe sah Brobeil
zunächst den mit Scherben übersäten Teppich – und ahnte, dass etwas
Fürchterliches geschehen sein musste.
31
Häberle schüttelte verständnislos den Kopf. Ja, dieser Willing war
wirklich ein Sonderling. Er wusste nicht so recht, was er von ihm halten
sollte. Sie hatten ihn damals überprüft und herausgefunden, dass er wegen
irgendeiner Lungenkrankheit frühzeitig in den Ruhestand versetzt worden war.
Bis dahin hatte er in München bei einem physikalisch-technischen Institut
gearbeitet. Keine auffällige Vergangenheit.
Häberle klappte die Akte zu und sah auf
seiner Armbanduhr, dass es bereits kurz vor 22 Uhr war. Er hatte sich heute
länger im Büro aufgehalten, um seine Frau bei einem Volkshochschul-Kurs abholen
zu können. Sie lernte italienisch, weil sie beim nächsten Urlaub in der Toskana
auch mal ein paar Worte mit den Einheimischen wechseln wollte. Am heutigen
Abend würden sie, stilgerecht, noch eine Pizza essen, vermutlich im ›La Bocca‹,
wo sogar mal Udo Jürgens nach einem Konzert gespeist hatte, wie damals in der
örtlichen Zeitung, der NWZ, zu lesen gewesen war. Irgendwie kam Häberle dieser
Artikel in den Sinn, als er den Aktenordner mit der Aufschrift ›Hohenstadt‹
wieder ins Regal zurück stellte. Er freute sich auf den gemütlichen
Tagesausklang mit seiner Frau, die er schon so oft hatte enttäuschen müssen,
weil immer dann, wenn sie etwas geplant hatten, das Telefon klingelte.
Wie jetzt. Der Kommissar blieb für einen
Moment stehen und überlegte, ob er abnehmen sollte. Aber er hatte dem Dienst
habenden Kollegen leichtsinnigerweise gesagt, dass er noch eine Zeit lang da
sein würde – falls etwas sei.
Das Klingeln des Telefons verhieß nichts
Gutes.
Hin- und her gerissen zwischen dem
erhofften netten Abend in der Pizzeria und der beruflichen Pflicht, griff er
dann doch zum Hörer. Es war tatsächlich der Kollege, der Nachtdienst hatte. »Sie
haben doch gesagt, ich soll Sie informieren, wenn’s was gibt«, hörte er ihn
beinahe entschuldigend sagen.
»Kein Problem«, erwiderte Häberle und
holte tief Luft.
»Wir haben eine seltsame Sache in
Steinenkirch«, berichtete der andere knapp, »eine Frau wurde in ihrer Wohnung
bedroht, gefesselt, geknebelt. Die Streife hat uns verständigt.«
Der Kriminalist ließ sich in seinen
Bürosessel fallen. »Und weiter?«
»Kein Sexualdelikt«, antwortete der
Kollege, »es scheint etwas ganz anderes dahinter zu stecken. Sie hat den
Kollegen gesagt, sie habe seltsame Entdeckungen gemacht.«
Häberle dachte an seine Frau, an deren
enttäuschten Blick und an die Pizzeria. Dann entschied er: »Ich komm mit.«
Er rief seine Frau auf dem Handy an,
erklärte ihr, was geschehen war und zeigte sich erleichtert, dass sie seine
Situation verstand. Das tat sie seit Jahren schon. Allerdings hatte er die
Enttäuschung in ihrer Stimme durchaus gespürt. Nun würde sie den Golf im Hof
der Polizeidirektion holen und allein nach Hause fahren.
Zwei Minuten später saß Häberle im weißen
Dienst-Mercedes der Kriminalpolizei. Sein Dienst habender Kollege, ein
drahtiger junger Mann mit Schnauzbart, steuerte den Wagen zur Burgstraße
hinauf, über die sie den weihnachtlich geschmückten Innenstadt-Bereich
verließen. Es nieselte. Eine dieser feucht-nassen und kalten November-Nächte.
Die Kreisräte waren nach der Sitzung in die ›Harmonie‹
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