Trugschluss
Steige hochklettern. Unterwegs kamen ihm nur wenige Autos
entgegen.
Als Brobeil die Hochfläche wieder erreicht
hatte, wo sich die Scheinwerfer in einer undurchdringbaren feuchten Nebelwand
verloren, tauchten schemenhaft die Ortsschilder auf. Die Sichtweite betrug nur
noch zwanzig Meter, der Regen wurde stärker. Brobeil hatte Mühe, den links
abzweigenden Ravensteiner Weg zu finden, von dem er wusste, dass er in Lilos
Wohngebiet führte.
Danach war es nur noch eine weitere
Seitenstraße, ziemlich am Ortsrand, in die er einbiegen musste. Auch wenn der
Nebel immer dichter wurde, fand er auf Anhieb das Grundstück, das links an die
Straße grenzte. Er parkte seinen Polo am rechten Gehwegrand und ging zu dem
Gartentor hinüber, das den schmalen Durchgang zwischen einer Doppelgarage und
dem Haus begrenzte. Der Nebel lag kalt und nass in der Luft, alles
verschluckend, sich mit der Nachtschwärze vermischend. Selbst der
Neun-Uhr-Glockenschlag vom Kirchturm wirkte gedämpft und hörte sich unwirklich
an. Brobeil fühlte sich von einer eigenartigen Atmosphäre gefangen. Niemand
hatte er auf den Wohnstraßen gesehen – und die Lichter hinter den Fenstern
verschwammen in der weißen Hölle schon nach wenigen Metern zu kleinen Punkten.
Irgendwo rauschte Wasser durch eine Dachrinne und verursachte ein blechern,
schepperndes Geräusch. Brobeil wollte gerade den Klingelknopf drücken, den er
am Betonpfosten links des schmiedeeisernen Türchens wusste, als der panische
Schrei einer Frau diese Stille zerschnitt. Ein Schrei des Entsetzens, lebensbedrohend,
ein gellender Schrei, der den Nebel erfüllte, von überall her, wie es schien.
Dann war es wieder still, so unheimlich und gespenstisch, als ob die Stimme aus
dem Nichts gekommen sei.
Brobeil war nur eine Schrecksekunde lang
wie erstarrt stehen geblieben. Dann aber hechtete er mit einem Satz über das
Gartentor, kam auf den nassen Bodenplatten beinahe zu Fall, fing sich wieder,
hastete die paar Meter zur Haustür, die zur Garage hin überdacht war.
»Hallo, hallo«, rief der Theologe, jetzt
wild entschlossen, sich einzumischen – egal, in was. Er trommelte gegen die
hölzerne Eingangstür. »Lilo, Lilo«, seine Stimme überschlug sich, wurde immer
lauter, »Lilo, Lilo.« Er versuchte, an dem Messing-Türgriff zu rütteln, doch
nichts gab nach. Für einen Augenblick lauschte er in den Nebel, aber außer dem
Rauschen der Dachrinne war nichts zu hören.
Brobeil drehte sich blitzartig um, rannte
am Haus entlang zurück, um dann quer durch den Vorgarten an der Längsseite des
Gebäudes zur anderen Giebelfront zu spurten. Er stolperte über die Einfassungen
von Blumenbeeten, spürte, wie seine Schuhe in nass-weicher Erde versanken,
preschte durch eine Hecke, deren Äste ihm ins Gesicht peitschten, und erreichte
einen Kiesweg, der rechts zur Giebelseite führte. Einen Augenblick zögerte er,
ehe er, deutlich langsamer, in diesen stockfinstren Bereich eintauchte. Das
wenige Licht der Straßenlampen, das den Vorgarten wenigstens schemenhaft hatte
erkennen lassen, war hier vollständig im Nebel untergegangen. Brobeil presste
sich an die Wand und tastete sich stückweise vorwärts. Er musste damit rechnen,
dass es einen Kellerabgang gab und er Treppen hinabstürzen konnte.
Wieder hielt er inne und lauschte. Wenn
Lilo Hilfe brauchte, und danach hatte sich der Schrei angehört, dann musste er
versuchen, über die rückwärtige Terrasse einzudringen. Möglicherweise aber
waren die Täter, wenn sie der Grund für Lilos panischen Schrei gewesen sein
sollten, ebenfalls von dort gekommen.
Brobeil spürte, wie sein Herz pochte.
Tausend Gedanken spielten in seinem Kopf verrückt. Angst, Panik – die Sorge um
Lilo. Sie war bedroht worden, das hatte sie ihm mit Entsetzen in der Stimme
gesagt. Von wem? Und wo war überhaupt ihr Mann, der Winfried?
Der Theologe spürte die Kälte, die
Feuchte, seine nassen Füße. Schritt für Schritt tastete er sich an der rauen
Wand entlang, nur das Dachrinnen-Geräusch im Ohr. Und jetzt in der Ferne ein
Motorengeräusch, vielleicht ein Motorrad. Ansonsten war es still, fast
gefährlich still. Er versuchte, sich die Situation hinter dem Haus vorzustellen.
Genau konnte er sich nicht daran entsinnen. Vermutlich aber war es das letzte
Gebäude in diesem Siedlungsgebiet. Dahinter begann das freie Gelände, das sich
über eine weite Hochfläche hinwegzog. Wenn also jemand in das Haus eingedrungen
war, dann hatte er dorthin flüchten können. Brobeil machte sich
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