Trugschluss
Mammut-Sitzungen gewohnt, hatte er schon seit einer Stunde
das Ende herbeigesehnt. Doch die Diskussionen, oft parteipolitisch geprägt,
begannen sich immer wieder erneut, im Kreise zu drehen. Den wenigen Zuschauern
war’s schon bald gegen den Strich gegangen, weshalb sie den Saal lustlos
verlassen hatten.
Jetzt, als auch der Punkt Verschiedenes abgehakt werden konnte, lagen schon mehr als fünf Stunden Sitzung hinter ihm.
Es war die letzte in diesem Jahr. Deshalb ersparte er den ermatteten
Kreispolitikern auch einen kurzen Rückblick nicht, zählte die Sitzungsstunden
auf und tauchte tief in die Statistik ein.
Seine Zuhörer wirkten blass und
verschwitzt. Endlich der Hinweis auf den gemütlichen Jahresabschluss, der
wieder in der Innenstadt-Gaststätte ›Harmonie‹ stattfinden sollte.
Kurzer Beifall brandete auf, dann
verstauten die Kreisräte ihre Akten und waren in Gedanken bereits bei einem
erfrischenden Bier.
Plötzlich jedoch machte sich in Reihen der
Konservativen Irritation breit. Der Platz ihres Fraktionskollegen Bruno Blühm
war leer. Seine Schriftsätze, die er ausgebreitet hatte, lagen noch immer
ungeordnet auf dem kleinen Tischchen, außerdem ein Kugelschreiber und ein
Notizblock. Als habe er Hals über Kopf die Sitzung verlassen.
»Wo ist Blühm?«, fragte einer der
konservativen Kreisräte und sprach aus, was die anderen dachten. Seine Kollegen
blickten sich verwundert um und schwiegen für einen Augenblick. Der Mann, der
neben Blühm gesessen war, klärte auf: »Der ist vor zwei Stunden schon raus. Ich
glaub, er hat telefoniert.«
»Und jetzt?« hakte ein anderer nach.
»Nehmen wir seine Utensilien mit«,
entschied Fraktionsvorsitzender Wolfgang Kapp, »typisch Bruno«, fügte er
lächelnd hinzu, »zerstreut halt wie ein Professor.«
Kapp schob die Papiere ordentlich zu einem
Stapel zusammen, nahm Kugelschreiber und Notizblock und steckte alles in seine
eigene Aktentasche.
Unterdessen trat ein anderer Kreisrat aus
den Reihen der Konservativen an den Tisch, um den herum sich inzwischen die
gesamte Fraktion scharte. Es war Peter Laichle, ein Mann wie ein Bär, der gern
selbst mit seiner enormen Körperfülle kokettierte. Er holte sein Handy aus der
Innentasche seines Jacketts und drückte einige Tasten. Laichle war dafür
bekannt, nicht nur die Telefonnummern aller wichtigen Leute abgespeichert zu
haben, sondern natürlich auch die der ganzen Fraktion. Er lauschte in das
winzige Gerät, das in seiner voluminösen Handfläche verschwand.
»Nur Mailbox, nicht erreichbar«, sagte er
schließlich, um grinsend hinzuzufügen: »Bruno ist abgetaucht.«
Dann verließen sie den Sitzungssaal und
traten hinaus in einen kalten Novemberabend.
Lilo Neumann schien nervlich am Ende zu sein. Das Telefonat, das
sie schluchzend und wortlos beendet hatte, ließ gar keinen anderen Schluss zu.
Brobeil zögerte nicht lange. Er schnappte sich sein abgegriffenes Lederjackett und
eilte, ohne das Licht zu löschen und ohne den Computer auszuschalten, aus
seinem Büro, die steile Holztreppe hinab und aus dem Haus. Draußen war der
Nebel dichter geworden, feiner Nieselregen hing in der Luft. Der Theologe stieg
in seinen alten, knallroten Polo, der noch aus einer Zeit stammte, als
Volkswagen erhebliche Rostprobleme mit seinen Blechen hatte. Beim zweiten
Versuch startete der Motor und Brobeil steuerte den klapprigen Wagen aus dem
Wohngebiet hinaus. Er fädelte sich ein kurzes Stück weit in die nach Ulm
führende Bundesstraße ein, die er aber schon nach wenigen hundert Metern wieder
verließ. Er wollte quer über die Schwäbische Alb, auf dem direkten Weg, zu Lilo
fahren – über Schelklingen, Blaubeuren und Merklingen, dort die Autobahn A 8 querend
und über Nellingen und Türkheim hinab nach Geislingen. Er kannte die Strecke
inzwischen genau, denn seit er in den Lechtaler Alpen Lilos Mann kennengelernt
hatte, war eine wunderbare Freundschaft entstanden. Sie besuchten sich häufig
und fanden immer größeren Gefallen daran, den Geheimnissen des Brummtons auf
die Spur zu kommen.
Nach einer dreiviertel Stunde Fahrzeit
knatterte der Polo, dessen Auspuff offenbar vollends abzufallen drohte, die
Türkheimer Steige hinab nach Geislingen, wo es kräftig regnete. Dort, im
Talkessel, schlug Brobeil die Richtung nach Heidenheim ein, gelangte hinter dem
kleinen Örtchen Eybach ins Roggental, das an einem solchen Abend besonders
finster und bedrohlich wirkte, und ließ seinen Kleinwagen die kurvenreiche
Steinenkircher
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