Trugschluss
weiter. Ein Kreisrat war gestern Abend verfrüht aus
dem Sitzungssaal gegangen und seither verschwunden. Er hieß Bruno Blühm und
wohnte in Deggingen – im Verbreitungsgebiet der ›Geislinger Zeitung‹ also.
Sander kannte den Mann. Ein engagierter Schulleiter, der aber wohl voriges Jahr
bereits in den Ruhestand verabschiedet worden war.
Über die Hintergründe seines Verschwindens
sei nichts bekannt, verlautbarte die Polizei. Sander überlegte einen kurzen
Moment, entschied dann aber, den Fall wie alle anderen dieser Art zu behandeln:
Das als Datei angehängte Porträtfoto veröffentlichen und einen entsprechenden
Zeugenaufruf dazu. Natürlich würde es notwendig sein, über die
Personenbeschreibung hinaus auch noch etwas zum politischen Engagement des
Vermissten zu schreiben. Das würde weitere Arbeit bedeuten. Sander stöhnte in
sich hinein. Er würde wohl eine Nachtschicht einlegen müssen.
Deshalb machte er sich über die
Routinearbeit her und öffnete Briefe, las Faxe, entwarf das Layout für die
Montagsausgabe – drei Seiten für den Stadtbereich, eine fürs Umland. Dazwischen
der Versuch, noch Häberle an die Strippe zu bekommen. Der aber war entweder in
einer Besprechung oder erklärte freundlich, dass er leider momentan nicht zu
sprechen sei. Sander hatte dafür Verständnis – und machte sich über den Artikel
eines freien Mitarbeiters her. Es fiel ihm allerdings schwer, sich auf den Text
zu konzentrieren. Denn je mehr er über das Geschehen in Steinenkirch
nachdachte, desto stärker wurde sein Gefühl, dass da etwas Großes im Gange sein
konnte.
Und dann fiel es ihm plötzlich wie
Schuppen von den Augen: Bruno Blühm. Klar.
Sander kam erst kurz vor Mitternacht heim. Seine Lebensgefährtin
Doris, eine attraktive Frau, die ihre blonden Haare halblang trug und die stets
wesentlich jünger geschätzt wurde, als sie tatsächlich war, hatte geduldig auf
ihn gewartet und dann eine köstliche Lasagne serviert, die sie gemeinsam im
Wintergarten aßen, umgeben von den indirekt beleuchteten Hecken und Bäumen des
Gartens. Bei einem Gläschen Chianti schilderte Sander, was er im Laufe des
Tages erfahren hatte. Doris hörte gespannt zu, auch wenn sie sich gegenüber
Unerklärlichem und Mysteriösem eher distanziert und skeptisch zeigte.
Es war bereits halb zwei, als sich Sander
trotz zweier Gläschen Rotwein dazu durchrang, noch den Artikel zu schreiben.
Denn sonntags, das wusste er, stürzte so viel Routinearbeit über ihn herein,
dass ihm dazu womöglich nicht die nötige Zeit blieb.
Sonntag, 30. November 2003.
Mehr als ein paar wenige Stunden Schlaf waren ihm nicht geblieben.
Während er bereits um neun in der Redaktion war, traf etwa zur gleichen Zeit
auch Kriminalhauptkommissar August Häberle, mit einem dicken Strickpulli
bekleidet, wieder in der Geislinger Außenstelle ein, um die Kollegen bei der
jetzt beginnenden Kleinarbeit zu unterstützen. Bruhn zögerte noch mit dem
Einrichten einer Sonderkommission, ordnete aber an, dass sich alle am Sonntag
verfügbaren Kriminalisten des Vermissten Blühm annehmen sollten. Häberle solle
sich schwerpunktmäßig um die Zusammenhänge kümmern. »Das braucht der mir nicht
zu sagen«, brummelte der Ermittler, während er sich mit Linkohr in ein kleines
Besprechungszimmer zurückzog, um die Protokolle und Aufzeichnungen des Vortages
zu sichten.
»Wir wissen schon eines«, ereiferte sich
Linkohr und saß an dem weißen Tisch dem Kommissar gegenüber, »der Blühm hat
überhaupt nicht telefoniert.«
Häberle verstand nicht.
»Na ja«, erklärte sein junger Kollege, »er
wurde im Sitzungssaal nicht angerufen. Das hat die Telefongesellschaft
festgestellt. An sein Handy ging zu diesem Zeitpunkt weder ein Anruf, noch hat
er selbst jemand angerufen. Da haut’s dir’s Blech weg.«
»Aber in der Tat«, bestätigte Häberle, »dann
hat der nur so getan – als Vorwand gegenüber seinen Fraktionskollegen, um die
Sitzung verlassen zu können!«
»So sieht’s aus«, stellte Linkohr fest.
»Dann hat der die Fliege gemacht«,
resümierte der Kommissar, »gesehen hat ihn draußen vor dem Landratsamt keiner?«,
wollte er wissen.
Linkohr, der die Akten der Kollegen bereits
gewälzt hatte, schüttelte den Kopf. »Die Putzfrau meint, er sei noch zur
Toilette gegangen – dann hat sie ihn nicht mehr gesehen.«
»Er wird ja wohl kaum da drinnen spurlos
verschwunden sein …«, lächelte Häberle.
»Im Moment sieht’s wirklich danach aus,
als habe sich Blühm in
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