Trust Me - Blutiges Grauen
zögern den Zettel. Oliver faltete das Blatt auseinander, auf dem eine Adresse auf Sherman Island notiert war. Er kannte sich im Delta inzwischen gut aus, hatte es nach den Fernsehnachrichten im Krankenhaus auf dem Plan genauestens studiert. Deshalb wusste er, dass Sherman Island zu den zahlreichen kleinen Ortschaften zwischen den Flussarmen gehörte. Aber es hätte trotzdem eine falsche Adresse sein können.
Er sah den Jungen misstrauisch an. “Woher soll ich wissen, ob die Adresse auch richtig ist?”
“Weil sie es ist”, gab der schulterzuckend zurück.
“Wie hast du das rausgefunden?”
“Das geht Sie nichts an. Ich finde jeden – sofern derjenige Familie, Freunde, Kreditkarte oder ein Haus hat und ans Versorgungsnetz angeschlossen ist. Man kann sich verstecken, aber man kann sich nicht unsichtbar machen.” Sein großspuriges Grinsen passte ganz eindeutig nicht zu der Zahnspange, aber das tat hier nichts zur Sache. Nachdem Oliver
monatelang
vergeblich darauf gewartet hatte, dass Victor ihm diese Information besorgte, hatte er endlich, was er wollte. Dieser picklige Teenager, der noch grün hinter den Ohren war, hatte es innerhalb von drei Tagen geschafft.
“Gute Arbeit”, sagte er angemessen beeindruckt.
“Sie können mir mit dem Honorar danken.” Der Junge hielt die Hand auf, aber Oliver machte keine Anstalten, das Geld herauszuholen.
“Du hättest mir zuerst die Kohle abknöpfen müssen. Warum sollte ich dich jetzt noch bezahlen?” Ohne sein Messer würde Oliver gegen die meisten Typen nicht ankommen, das wusste er, aber er war sicher, dass er diesem Kind eine Lektion erteilen konnte. Bis der Junge in beide Richtungen der Gasse ein Handzeichen machte und Oliver feststellte, dass er nicht allein gekommen war. Zwei weitere Teenager versperrten den Weg zu beiden Seiten der schmalen Straße und hielten ihm drohend ein Klappmesser entgegen.
“Du bist schlauer, als du aussiehst”, sagte Oliver trocken und zog das Geld aus der Tasche.
“Das ist das Problem mit den Leuten hier in diesem Staat: Sie beurteilen Menschen nach ihrem Aussehen.”
“Was dir ja wohl zugute kommt, oder?”
“Manchmal.” Der Junge zählte die Scheine und nickte. “Okay, alles in Ordnung. Sie wissen ja, wie Sie mich erreichen können, falls Sie noch mal mit mir ins Geschäft kommen wollen.”
Als Oliver stehen blieb, drehte sich der Junge um und lief zu seinem Kumpel am nördlichen Ende der Gasse hinüber. Der dritte Junge war verschwunden, bevor Oliver ihn sich genauer ansehen konnte. Wahrscheinlich umrundete er den Block, um den anderen beiden entgegenzugehen, statt allein an ihm vorbeizulaufen.
“Sehr gerissen”, murmelte Oliver und lachte, als er sich vorstellte, wie die Kids die ganzen fünfhundert Dollar im Einkaufszentrum auf den Kopf hauten. Wahrscheinlich für Videospiele – was für eine verdammte Verschwendung von einem Diamanten mit einem Karat! Aber Oliver hatte, was er brauchte. Und das war alles, was zählte.
Die Fenster waren dunkel und die Tür fest verschlossen, als Jane ankam. Der Lastwagen, den Oliver sich von seinem Bruder geliehen hatte, stand nicht vor der Tür. Es sah nicht so aus, als wäre jemand zu Hause.
“Oliver?” Jane hatte das letzte Mal kurz nach dem Mittag mit ihrem Mann telefoniert. Da hatte er versprochen, Kate um vier Uhr von seinen Eltern abzuholen. Jane war dankbar für diese Hilfe; es herrschte immer starker Verkehr, wenn sie um sechs von der Arbeit kam. Aber wenn er Kate mitgenommen haben sollte, dann war sie jedenfalls noch nicht zu Hause angekommen. Der Rucksack lag nicht auf dem Küchentisch, wo sie ihn normalerweise ablegte. Nirgends gab es ein Anzeichen dafür, dass sie überhaupt hier gewesen war.
Hatte Oliver sie doch nicht wie versprochen von seinen Eltern abgeholt? Vielleicht war er mit dem Truck zu Wendy gefahren, und Wendy hatte ihn zu Hause abgesetzt. In diesem Fall könnte er in einem der hinteren Schlafzimmer im Dunkeln sitzen. Was er manchmal tat. Oder vielleicht machte er eine Fahrradtour …
“Oliver?”, rief sie, während sie von einem Zimmer ins andere lief.
Sie fühlte sich bei dem Gedanken nicht wohl, dass Kate womöglich mit ihm allein sein könnte. Noah glaubte nicht, dass Oliver gefährlich war, aber die vergangene Nacht hatte Jane überzeugt. Das Erlebnis saß ihr immer noch in den Knochen. Sie wusste, dass sie ihm gegenüber jetzt immer misstrauisch sein würde.
Die Badezimmertür des Gästezimmers war verschlossen. Sie glaubte, ihn
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