TS 04: Das endlose Schweigen
übertriebene Vorsicht, jetzt, wo es so dicht scheinte. Aber konnte man heute noch zu vorsichtig sein?
Er fühlte den Hunger und begann, auf das Haus zuzuschreiten. Mit einem letzten Blick stellte er befriedigt fest, daß die Spuren der Nacht allmählich verschwanden.
Sobald der Frühling kam, würde er Hoffmanns verlassen. Er wollte nach Washington, um sich die letzten offiziellen Überlebenden anzusehen. Die letzten lebenden Amerikaner, wie Judson May gesagt hatte.
Zur Hölle mit ihm!
10. Kapitel
Der Himmel über ihm war strahlend blau.
Es war Sommer in Ohio, oder wo immer er auch sein mochte. Sämtliche Wegweiser waren verschwunden, wahrscheinlich hatte man sie verfeuert, und die Städte hatte er tunlichst gemieden. Aber was machte das schon? Wenn er sich einbildete, in Ohio zu sein, dann war er eben in Ohio.
Er lag in dem hohen Gras auf dem Rücken und schaute zu den wenigen weißen Wölkchen hoch, die langsam über ihn hinwegzogen. Eine Ameise kroch über seine Hand, aber er war zu faul, um sie abzustreifen. Wie schön war der Himmel, die ziehenden Wolken und das hohe Gras!
An sich hatte er schon früher in dieser Gegend sein wollen, aber der Abschied von Sandy und ihren Leuten war schwerer gewesen, als er befürchtet hatte. Sie wollten ihn nicht gehen lassen. Erst als er hoch und heilig versprochen hatte, im Herbst wiederzukommen, ließ man ihn ziehen.
Gary sah den Wolken nach und bezweifelte stark, daß er sein Versprechen würde halten können.
In sechs oder sieben Jahren vielleicht würde er gern Hoffmanns einmal besuchen, um zu sehen, was aus Sandy geworden war. Das würde sich lohnen. Aber schon jetzt, in diesem Jahr? – Nein, niemals!
Diesen Winter würde er an der Golfküste verbringen, eine Einladung wartete noch auf ihn. Einen kurzen Besuch würde er Oliver und Sally abstatten und dann irgendwo an der Küste von Florida überwintern. Zu frieren brauchte er dort nicht, und Hunger gäbe es auch keinen, solange noch ein Fisch im Ozean war.
Ohio war so fein, so faul und so friedlich in diesem herrlichen Sommer, daß er kaum aufhorchte, als in der Ferne Schüsse erklangen. Was ging ihn das an? Er war weit genug weg, sie bedeuteten also keine unmittelbare Gefahr für ihn.
Dann ratterte ein Maschinengewehr, und er sprang auf die Füße.
Maschinengewehre? Nur Soldaten konnten eine solche Waffe besitzen, denn wer schleppte sich schon mit so einem schweren Ding ab? Soldaten aber konnten bedeuten …
Er begann zu laufen, auf das ferne Geknatter zu.
Soldaten konnten bedeuten, daß der Angriff begonnen hatte, der Angriff auf das verseuchte Land. Die Armee hatte den Mississippi überschritten und war dabei, alles Leben zu vernichten.
Er übersprang einen rostigen Drahtzaun.
Dabei stieß er Gebete aus und hoffte, daß es noch nicht so weit war, daß die Armee noch nicht gekommen war, um das verseuchte Land in ihren Besitz zu nehmen. Sicher, das Land war tot und grausam, es war leer und fast ohne Menschen; aber plötzlich liebte er es und wollte es unter keinen Umständen verlieren. Er vergaß, daß er das Land und sich selbst oft genug verflucht, daß er auf die Westseite gewollt und auch dieses bald aufgegeben hatte. Lieber weiter in einer fast toten Welt um sein Leben kämpfen, als gleich erschossen zu werden. Er war gerade 31 Jahre alt geworden, er war noch zu jung, um zu sterben.
Das Schießen war lauter geworden, und dann warf er sich zu Boden. Die letzten Meter kroch er durch das hohe Gras, das ihm die Sicht nahm. Auf dem Gipfel des kleinen Hügels angekommen, schob er den Lauf seines Gewehrs vor und teilte damit das Gras, um etwas sehen zu können.
Unten im Tal war eine gewundene Straße. Auf ihr standen zwei nicht sehr große Lastwagen, das war alles. Die grüne Tarnfarbe verriet, daß es sich um Fahrzeuge der Armee handelte. Sie ähnelten ein wenig dem Postwagen, den er damals mit Oliver benutzt hatte.
Der vordere der beiden Wagen stand ein wenig schräg. Es sah so aus, als habe man seine Reifen zerschossen. Aus der Rückwand des zweiten ragte der Lauf des gesuchten Maschinengewehrs hervor. Nicht weit entfernt lag auf der Straße unbeweglich ein Mann.
Aus kleinen Fenstern der gepanzerten Fahrzeuge krachten Karabinerschüsse. Aus den nahen Bergen kam die Antwort.
Die Kühler beider Wagen zeigten nach Westen, in Richtung Mississippi.
Gary überlegte keine Sekunde.
Er begann, unter Ausnutzung des unübersichtlichen Geländes, auf die Straße zuzurennen. Immer wieder warf er sich
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