TS 04: Das endlose Schweigen
Überlebende, offiziell überlebende Amerikaner. Vielleicht sollte er sich im kommenden Frühjahr einmal darum kümmern.
Also waren diese Kabel auf dem Grund des Flusses doch Nachrichtenkabel, anders war die Verbindung nicht zu erklären, es sei denn, man arbeitete per Funk. Man hätte aber auch diese Nachrichten unterdrücken können, es bestand also ein Grund dafür, daß man es nicht tat. Nun, er würde es vielleicht im Frühjahr wissen.
Er richtete sich auf und verstellte den Wellenknopf, das Gerät dabei einschaltend. Musik erklang, leise und einschmeichelnde Musik. Sie tat ihm gut und gleichzeitig verursachte sie ihm Schmerzen.
Stundenlang stand er dann in der Küche und fühlte wie nie zuvor, daß er einsam war. Er schaute aus dem Fenster in die verschneite Winterlandschaft, in eine Welt, die bereits zum Tode verurteilt wurde. Wolken bedeckten den Mond und kündigten neuen Schnee an. Er unterbrach mehrere Male seine stillschweigende Wacht, verließ das Haus und machte seine Runden. Es wurde später und später, bis eine Station nach der andern ihre Sendungen einstellte und ihm eine angenehme Nachtruhe wünschte. Jedesmal suchte er dann eine neue Station, denn er fürchtete sich vor der plötzlichen Ruhe. Es kam ihm nicht zum Bewußtsein, daß er vorher anderthalb Jahre auch ohne Musik ausgekommen war. Natürlich wurde nicht nur Musik gesendet, sondern auch Reklame und Werbung. Einmal wurden die Hörer aufgefordert, alte Zeitungen und nicht mehr benötigte Eisenteile an den dafür bestimmten Sammelstellen abzuliefern. Zwischendurch erklang wieder Musik.
Einige der Songs kamen ihm bekannt vor, und er entsann sich, sie selbst früher oft genug mitgesummt zu haben. Hatte er genügend getrunken, sang er wohl auch. Sogar Lieder, die er in jenen bitteren Zeiten des Zweiten Weltkrieges in Italien oder Frankreich gesungen hatte, kamen aus dem Lautsprecher. Die Musik und die Erinnerung an das Leben schmerzte immer noch, aber er konnte sich nicht dazu entschließen, das Gerät auszuschalten. Anderthalb Jahre sind eine lange Zeit.
Besonders jene Lieder, die eine Frauenstimme sang, vergegenwärtigten ihm seine augenblickliche Lage. Wie allein und einsam er doch war!
Er begann, mit sich selbst zu sprechen, machte sich auf dieses oder jenes aufmerksam und verfluchte sich schließlich. Hätte er weniger ausgiebig Geburtstag gefeiert vor 18 Monaten, dann säße er jetzt nicht hier. War nicht alles seine eigene Schuld? Wem wollte er einen Vorwurf machen – außer sich selbst?
Für ihn war die Welt untergegangen, jetzt wußte er es endgültig.
Irma! Ja, so hatte ihr Name gelautet. Den Nachnamen hatte er vergessen, aber war der vielleicht wichtig? Die Bomben hatten sie überrascht, als sie einen Ausflug gemacht hatte. Die Katastrophe hatte ihr Gelegenheit gegeben, ihren größten Wunsch zu erfüllen: Juwelen! Neunzehn Jahre alt war sie gewesen, und er hatte allen Grund, es ihr zu glauben. Wie sechzehn hatte sie ausgesehen. Er entsann sich ihrer blauen Augen, die ihn angstvoll angestarrt hatten, als er sie beim Diebstahl der Juwelen überraschte. Die Haare? Braun vielleicht, er wußte es nicht mehr genau.
Sie hatten zusammen aus einer Konservendose gegessen, entweder auf der Straße vor einem Geschäft sitzend, auf dem Hotelbett oder hinter dem Steuer des Wagens. Sie waren gute Kameraden gewesen, bis sie sich vor der Brücke getrennt hatten.
Er hatte damals eine große Dummheit gemacht, denn es wäre besser gewesen, sie wären zusammen geblieben. Irma war ein hübsches Mädchen damals – und sie würde es auch heute noch sein, wenn sie noch lebte. Knapp einundzwanzig wäre sie heute. Wie mochte es ihr ergangen sein?
Und nach Irma?
Das Mädchen, das in den Bergen von Tennessee zu ihnen gestoßen war, diese Sally. Einen andern Namen hatte sie nicht besessen, bloß einfach Sally. Ganz kurz dachte er über das Problem nach, wer nun eigentlich einen Sohn hatte: er oder Oliver. Aber sonst hatte Sally bei ihm keinen bleibenden Eindruck hinterlassen, ebensowenig wie jene Frau in New Orleans, von der er sogar den Namen schon nicht mehr wußte.
Drei Frauen also hatte er in anderthalb Jahren kennengelernt.
Die Welt war untergegangen. Ein Blick aus dem Fenster schien ihm das zu bestätigen. Würde es für ihn wieder einmal eine Welt geben, eine richtige, lebendige Welt?
Hinter ihm sang eine Frauenstimme ein sentimentales Lied. Ihre Stimme kam über die weite Leere, in der nur die Schnellen und Starken noch lebten, alle
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