TS 16: Einer von Dreihundert
und hörte mich selber kaum. Das Gefühl kann sich nur vorstellen, wer es selber erlebt hat – wenn man bei Bewußtsein bleiben muß und doch der Bewußtlosigkeit so nahe ist, daß die Wahrnehmungen, die durch die Nervenkanäle das Gehirn erreichen, dort keine Spur mehr hinterlassen. Man muß sofort reagieren, sonst kann man es nicht mehr.
Endlich konnte ich den Strahl ausschalten. Obwohl das Chronometer anzeigte, daß er nur etwa drei Minuten gedauert hatte, war mir zumute, als wären es Stunden gewesen. Der Strahl hörte nicht schlagartig auf, wie er sollte, sondern allmählich. Die Couch hob sich langsam, und ich schwebte gewichtslos nach oben.
Der freie Fall ist etwas, woran man sich nie ganz gewöhnt, wenn man ihn auch noch so oft erlebt hat. Es ist immer wieder eine Überraschung, wenn es kein Auf und Ab mehr gibt und man sich nicht mehr nach Art der Käfer, sondern der Vögel fortbewegt.
Sammy Hoggan kam mit bösem Gesicht zu mir herein. „Mary Stowe ist tot“, sagte er kurz.
„War es die Beschleunigung?“ fragte ich.
„Ja, und ihre Couch ist zusammengebrochen. Die Beanspruchung war zu groß. Bill, haben Sie nicht stärker beschleunigt, als Sie sollten?“
„Ja“, antwortete ich.
„Das hat sie getötet“, sagte er schroff. „Das Gewicht war zu groß, und die Couch ist zusammengebrochen. Das war …“
Ich hatte genug über Mary gehört; wir konnten nichts mehr für sie tun. „Gehen Sie weg“, sagte ich.
Sammy fluchte. „Verdammt noch mal, Bill. Sie sind doch für uns alle verantwortlich. Ist das alles, was Sie zu sagen haben? Wenn Sie es tun mußten …“
Ich drehte mich um und sah ihn kalt an. „Ich bin dafür verantwortlich, daß dieses Schiff den Mars erreicht. Jetzt gehen Sie und lassen Sie mich in Ruhe. Es tut mir leid, Sammy, aber ich habe keine Zeit, höflich zu sein.“
Ich kehrte zu meinen Kalkulationen zurück und bemerkte nicht, daß Sammy ging.
Ich bedeckte ein Blatt nach dem anderen mit mühevollen Berechnungen. Von Zahlen berauscht, schließlich nur noch aus reiner Sturheit weiterarbeitend, hartnäckig alles versuchend, was mir einfallen sollte, kam ich schließlich zu dem Ergebnis, daß in dem Augenblick, als wir den Erdboden verließen, unsere Chance, den Mars zu erreichen, etwa gleich eins zu tausend gewesen war. Und sie war inzwischen nicht sehr viel besser geworden.
Immerhin hatten wir die Erde verlassen und waren auf einem guten Kurs zum Mars. Wir hatten tatsächlich die erste Hürde genommen. Wir hatten geschafft, was schätzungsweise nur zwei- oder dreihunderttausend von den siebenhunderttausend Rettungsschiffen gelungen war.
Und von diesen zwei- oder dreihunderttausend Schiffen hatten bestimmt viele ihren gesamten Kraftstoff verbraucht, um sich von der Erde loszureißen. Diese Schiffe waren nun völlig hilflos. Einige von ihnen schossen jetzt vielleicht nach allen Richtungen ins Weltall hinaus, ohne irgend etwas daran ändern zu können. Andere mochten auf die Sonne zurasen oder ihr so nahe kommen, daß sie in ihr Schwerefeld gerieten. Wieder andere flogen weiter und weiter fort an den Planeten vorbei ins All hinaus und würden, falls nicht irgendein anderer Fixstern oder Planet sie einfing, bis in alle Ewigkeit weiterrasen …
Ich fluchte und schimpfte auf niemanden. Ich löste nur verbissen eine Rechenaufgabe nach der anderen, als ob ich mit meiner Schulmathematik alles in Ordnung bringen könnte.
Auf Grund meiner eigenen Erfahrungen berechnete ich, wieviel Treibstoff die Rettungsschiffe tatsächlich brauchten, und dann, da sie entsprechend größer und stärker hätten sein müssen, wie viele Rettungsschiffe man anstelle der siebenhunderttausend hätte bauen können und wie viele Menschen sie gefaßt hätten.
Das Resultat war 97 000, also eine Lebenschance für etwa eine Million anstatt fast acht Millionen Menschen. Nicht jeder Dreihundertste, sondern jeder Zweitausendzweihundertste! Wie wäre mir wohl zumute gewesen, wenn ich zwanzigtausend Menschen vor mir gehabt hätte mit der Aufgabe, zehn auszusuchen?
Ich schüttelte ermüdet den Kopf. Die Probleme waren zu groß für mich. Ich hatte zu lange mit Zahlen über Leben und Tod herumjongliert – wenig Leben und viel Tod.
Ich würde gewiß wieder zu mir zurückfinden, aber vorläufig war ich mit meinem Verstand zu Ende.
7. Kapitel
Ich stieß mich von der Wand ab und schwebte in den Hauptraum des Rettungsschiffes, den Sammy bereits ironisch den „Salon“ getauft hatte.
Die Rettungsschiffe
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