TS 27: Verpflichtet für das Niemandsland
jedoch alles nur trüb und verschwommen. Mit jedem Windstoß kam ein grünliches Dunkel in Wirbeln wie dicker Rauch auf ihn zu, und der Regen nahm ihm fast völlig die Sicht.
Temple lief, bis ihm die Lungen brannten und er glaubte, er müsse Feuer ausatmen. Seine Füße waren schwer wie Blei, und mit jedem Schritt fiel es ihm schwerer, gegen den Morast anzukämpfen. Wild und ohne bestimmte Richtung lief er weiter, überzeugt, daß er irgendwo einen Unterschlupf finden würde. Zweimal stieß er heftig gegen Bäume, zweimal stürzte er auf die Knie, richtete sich jedoch schnell wieder auf, holte tief und schmerzhaft Luft und lief in einer anderen Richtung weiter.
Er lief so lange, bis die Beine unter ihm nachgaben. Er fiel, knickte zuerst in den Knien ein, dann in der Hüfte und platschte schließlich mit dem Gesicht voran in den Morast. Irgend etwas stieß ihm bei dem Fall in den Rücken, und als er hinter sich griff, merkte er zum erstenmal, daß er einen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen an einem starken Ledergurt über den Schultern hängen hatte. Er trug nichts als ein Lendentuch aus dem Fell eines unbekannten Tieres. Er fragte sich vergeblich, ob er das Tier mit der Waffe, die er trug, erlegt hatte. Als er versuchte, sich daran zu erinnern, mußte er feststellen, daß er es nicht konnte. Er erinnerte sich an nichts als an seine wilde Flucht durch den Regenwald, so, als wäre er sein ganzesLeben in einem vergeblichen Versuch, den Regen hinter sich zu lassen, immer weiter gelaufen.
Als er jetzt im Morast lag, konnte er sich noch nicht einmal an seinen Namen erinnern. Hatte er überhaupt einen? Hatte er ein Leben gehabt, ehe er in diesem Regenwald war? Weshalb hatte er es dann vergessen?
Ein Gefühl, das im Menschen nicht voll entwickelt ist und von denen, die es nicht verstehen können, Intuition genannt wird, ließ ihn den Kopf auf die Hände stützen und mit zusammengepreßten Augen durch den strömenden Regen blicken. Da vor ihm war irgend etwas im Laubwerk – irgend jemand.
Eine Frau.
Temple hielt bestürzt den Atem an. Die Frau stand nur ein Dutzend Schritte vor ihm und beobachtete ihn kühl. Die Hände hatte sie in die Hüften gestützt. Trotz des Sturmes stand sie aufrecht da. Ihr bronzefarbener Körper glitzerte von Nässe, und Temple bemerkte, daß sie ebenso groß wie er war, eine wilde, schöne Göttin des Dschungels. Sie war ein Teil des Sturmes, und er fand sich damit ab – aber sonderbar – mit derselben Furcht, die der Sturm in ihm erweckte. Sie würde eine wundervolle Geliebte sein, dachte Temple verwirrt, aber sie würde auch eine schreckliche Gegnerin sein.
Und sie war eine Gegnerin …
„Ich möchte deine Pfeile und den Bogen“, sagte sie zu ihm.
„Sie gehören mir“, erklärte Temple und erhob sich auf die Knie, erinnerte sich an die Tierschemen, die er im Sturm gesehen hatte und wußte, daß er und die Tiere sich gegenseitig belauern würden, wenn erst der Sturm nachgelassen hatte, und daß er dann den Bogen und die Pfeile brauchen würde.
Die Frau kam mit gleitenden Bewegungen auf ihn zu. „Ich werde sie mir nehmen“, sagte sie.
Temple war sich nicht sicher, ob sie das konnte oder nicht. Und obwohl sie eine Frau war, fürchtete er sich irgendwie vor ihr.
Er sprang auf, drehte sich um und lief davon. Er stürmte erneut durch den wilden Sturm, geblendet durch die Blitze, die herabfuhren, und betäubt durch die Donnerschläge, die ihnen folgten.
Eine Ewigkeit lang lief Temple durch den Wald. Eine Kraftreserve, von der er nie gewußt hatte, daß er sie besaß, gab ihm die Energie für jeden schmerzhaften Schritt, und der Lauf durch den Sturm schien ihm als etwas ganz Natürliches. Es kam aber schließlich der Zeitpunkt, als seine Kraft plötzlich nachließ. Temple stürzte, kroch ein Stück weiter und blieb dann still liegen.
Er brauchte Minuten, um zu erkennen, daß der Sturm ihn nicht mehr schüttelte, weitere Minuten, um zu merken, daß es ihm gelungen war, in eine Höhle zu kriechen. Er hatte jetzt keine Zeit, sich zu dem ihm widerfahrenen Glücksfall zu beglückwünschen, denn irgend etwas regte sich draußen.
„Ich komme hinein“, rief die Frau ihm aus der grünlichen Düsternis zu.
Temple legte einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens, spannte die Sehne und zielte auf den Höhleneingang. „Dann wird dein erster auch dein letzter Schritt sein. Ich werde auf dich schießen mit der Absicht, dich zu töten.“ Er meinte es ernst.
Schweigen von draußen.
Temple
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